Die Harmonie am Irschenberg


von KIRSTEN KÜPPERS

Die Rentnergruppe steht unter dem Baum, trinkt Cola und prostet sich zu, vor sich den Parkplatz, im Rücken die Autobahn. Der Italienurlaub ist vorbei, Entspannung macht sich breit, jetzt kommt das Gewohnte. Und es ist ja schon mal ein beruhigendes Zeichen, dass der Getränkeverkauf läuft. Nicht, dass man es nicht gewusst hätte. Denn wenn es noch etwas Verlässliches in der Welt gibt, dann, dass die Raststätte Irschenberg geöffnet ist, diese robuste Gastronomieanlage am Autobahnrand, an einer der meistbefahrensten Straßen Deutschlands, wo doch so viele, die mit dem Auto in den Süden wollen und zurück, hier unterwegs sind: auf der A 8 zwischen München und Salzburg.

Regierungen können stürzen, Ehen zerbrechen, Terroristen Bomben legen, Mauern fallen, Lawinen losgehen, Währungen wechseln, Fußballer die Weltmeisterschaft verpatzen, Rinderseuchen wüten, Teenager schwanger gehen, Flugzeuge in Hochhäuser fliegen, alle Italiener, Deutschen und Österreicher sich gleichzeitig in die Autos setzen, Holländer und Dänen noch dazu – das Geschäft am Irschenberg geht weiter, der höchstgelegenen Raststätte des Landes. Ein Ruhetag ist hier noch nicht vorgekommen, seit 50 Jahren nicht. 24 Stunden am Tag, rund um die Uhr bieten die Angestellten des Betriebes gegen alles Geschiebe der Zeit ihre Wiener Schnitzel auf und den Blick auf bayrische Berglandschaft.

Dirndl und Katzendose

Dafür hat das Haus im Jahr 2000 von der Unternehmensgruppe „Tank und Rast“ unter 750 Betrieben den Titel „beste und freundlichste Raststätte Deutschlands“ bekommen. Ein großes Hinweisschild erzählt das jedem, der vom Parkplatz kommt.

Der Reisende geht also rein in diese Lokalität, mit eckigem Gang vom vielen Sitzen im Auto, er passiert die größte Kuhglocke der Welt, die vor dem Eingangsbereich aufgestellt ist. Ein Herr Krem aus Miesbach hat sie in 350 Stunden gebaut, damit er ins Guinnessbuch der Rekorde kommt, sagt ein Schild; warum die Glocke jetzt an der Raststätte steht, bleibt unklar, denn hinter der gläsernen Schiebetür herrscht eine neofolkloristische Reizüberflutung, die keine Fragen mehr zulässt: rechts der rustikal gehaltene Selbstbedienungsbereich mit den Schnitzeln, links der „Rastshop“, wo sich vom Bierkrug bis zur Katzenfutterdose alles türmt, geradeaus an der Wand neben der Popcornmaschine, ein riesenhaftes Ölbild: Louis Trenker vielleicht.

Die Chefs der Raststätte Irschenberg haben sich offenbar vorgenommen, kein Fleckchen Präsentationsfläche ungenutzt zu lassen, weswegen der Gast sich zwischen all dem seinen Weg zusätzlich entlang einer Dirndl-Ausstellung eines Chiemseer Trachtenkaufhauses und diverser Glasvitrinen mit Porzellanwaren bahnen muss, Topfpflanzen und Strohballen wurden auch untergebracht, Lichterketten hetzen über die Dekoration, Fettgeruch hängt in der Luft.

Ein erster Satz, der einem mittags an einem Samstag im Sommer dann hier entgegenschlägt, kommt von einer Mutter. Sie schreit ihr Kind an: „Wenn du nicht aufhörst, lass ich dich hier!“ Eine schlimme Drohung. Denn Raststätten sind ja kein Zuhause. Nur Durchgangsstationen. Wo der Besucher allenfalls im Vorbeigehen erfährt, was gerade los ist in Deutschland: an diesem Tag zum Beispiel die Ritterfestspiele in Kaltenberg. Menschen in Mittelalterblusen sind an diesem Wochenende gleich mehrere am Irschenberg unterwegs. Eine blonde Frau entschuldigt sich für ihren Lederwams: „Zu Hause renne ich nicht so komisch rum.“

Wie der Gast in der hauseigenen Umsonstzeitung nachlesen kann, greift der Trend zur Erlebniskultur längst auch auf das Raststättenangebot selbst über: Spargelwochen im Frühjahr, Rock-’n’-Roll-Bands auf dem Parkplatz, Rosen am Valentinstag. Machen sich die Irschenberg-Manager da nicht irgendwas vor, rennen einem neumodischen Dienstleistungskonzept hinterher? Wo doch jeder weiß, dass der Stopp an der Autobahn bei allen eventgastronomischen Bemühungen immer nur eingeschobene Zwischenzeit bleibt. Eine schnelle Etappe zwischen zwei Punkten. Nichts, in das man sich einleben mag. Auch wenn im Rasthaus Irschenberg – das muss der über das Gelände stromernde Besucher schon zugeben – die Zeit auf besondere Weise Halt zu machen scheint.

No Angels auf dem Klo

Natürlich ist alles inzwischen modern: elektronische Scanner-Kassen, No Angels aus der Lautsprecheranlage im Klo, eine Hüpfburg und eine futuristische Rutschanlage warten draußen auf Kinder, drinnen zeigt eine Urkunde an der Wand, dass auch in der Raststättenbranche heutzutage nichts mehr ohne Weiterbildung geht: An einem Wochenendseminar der „Tank & Rast- Akademie“ zum Thema „Aktiver Verkauf im Logis- und Veranstaltungsbereich“ hat Rasthausleiter Stefan Völker erfolgreich teilgenommen.

Trotzdem erinnert vieles an gestern. Der voluminöse Seitenscheitel des älteren Mitarbeiters, der das Geld fürs Gebratene abkassiert. Die vielen Heftchen-Romane im Rastshop-Regal. Die alten Frauen, die mit Schal und Sonnenbrille im blondierten Haar ihre Torten essen, als sei das hier die Côte d’Azur. Die Witze, die in der Umsonstzeitung stehen – es geht um Haare in Suppen – und von denen man nicht gedacht hätte, dass sie noch irgendwo im Umlauf sind. Vielleicht ist es auch nur das Panorama der Voralpen, was das einkehrende Publikum in die Kulisse vergessener Heimatfilme versetzt. So tut, als sei die Natur von nichts und niemandem bedroht.

Erschöpftes Genießen

Und das ist ja wirklich immer noch das beste Pfund, mit dem diese Raststätte wuchern kann: die Terrasse mit Blick auf oberbayrische Bergwelt. Eine breite Gebirgskette in Dunkelgrün, in Tal davor, wie hingewürfelt, Bauernhöfe mit Geranienbalkonen, eine Wallfahrtskirche. Zu diesem Bild dringt der Lärm der Autobahn nicht mehr vor. Stattdessen behäbige Ruhe.

Die Menschen, die auf der Terrasse sitzen, sind nicht sehr gesprächig, man muss das verstehen. Früh um fünf Uhr sind sie aufgestanden, nach drei Wochen an der Adriaküste irgendwo in einer Pension in Ancona oder Falconara, haben die Koffer und die Kinder in die Autos verstaut, sind gefahren und gefahren, weil man es heute noch bis nach Hause schaffen will, zeitig zum Fernsehprogramm, zu einer Flasche Bier und einer Wohnzimmercouch, die das Eigene bedeuten und die irgendwo in Dinslaken oder Herborn stehen. Und mitten in dieser Verausgabung überfällt einen an einer Raststätte dann so eine Aussicht!

Der Gast kann da lediglich mit Schweigen und Kauen reagieren, erschöpftes Genießen, keine ungeordnete Bewegung, die Sonne scheint ins Gesicht. Nur ein Pensionär in weißem Freizeithemd brüllt ins Handy: „Ja, da sitzen wir und gucken ein bisschen.“

So fügt sich nach Verzehr eines Schnitzels mit Pommes und Salat alles zu einer stillen, satten Harmonie. Was braucht der müde Reisende mehr? Mit allem ist er versöhnt jetzt, was für ein herrliches Rasthaus!

Den Besuchern, die sich beim erneuten Schlendern über die Verkaufsfläche noch fragen, wer zum Teufel hier 850 Mark für ein gusseisernes Vogelhäuschen ausgibt, denen möchte man einen schönen Satz von Karl Valentin zurufen, er steht unten auf der Herrentoilette: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“