Musikfest
: Die Lust, am Halbton zu leiden

Ein musikalischer Aufbruch beim Bremer Musikfest! Wilde harmonische Rückungen, rasant einfallende Tempiwechsel, schnörkellose Schroffheit.

Aufbruch, Umbruch, Kompromisslosigkeit – zumindest in der Rekonstruktion der musikalischen Entwicklung, die Europa vor 400 Jahren erlebte. Was damals entstand, wirkt heute noch „modern“ und kam als deutsche Erstaufführung in‘s Festival-Programm: Die „Lamentationen“ des Propheten Jeremias, vertont von Emilio D‘Cavalieri.

Ort dieses Ereignisses war die Kirche von Grasberg mit ihrerhistorischen Arp-Schnitger-Orgel. Begleitet von diesem barocken Instrument (gespielt von Detlef Bratschke) begann der jeremiadische Klagegesang.

Und wie er begann. Obwohl Cavalieri mit diesen „Lamentationes“ nicht mal eine besonders radikale Abkehr von den alten Kompositionstechniken verfolgte, lässt sich doch deutlich spüren, welche Befreiung diese Erweiterung der Ausdrucksmitel bedeutet haben muss: Es entstand eine in höchstem Maß lebendige Musik; eine, die nicht auf verschmelzenden Wohlklang aus ist sondern Dissonanz und harte Reibung einschließt.

Jähe Harmoniewechsel, Brüche, suchende Klänge – dem „Gesualdo Consort“ war anzumerken, dass das Nachvollziehen dieser Klangsuche höchste Konzentration verlangte – die wiederum zu aufregenden Ergebnissen führte.

Das Wanderkonzert von Halbton zu Halbton (schon die Orgel war nicht mit der Stimmung der übrigen Instrumente kompatibel) nahm seine Fortsetzung zum „Cembalo Universale“, dessen Tonhöhe wiederum eine ganz eigene war. Einmal auf sie eingestimmt, rutschten die Stimmen auf chromatischen Leitern durch das Gefühlsleben der auskomponierten Dichtung – das Wälzen in kleinstmöglichen (Ton-)Schritten des Leids immer passend zur (stilisierten) Welterfahrung der Dichter: „Ihr wollt, dass ich sterbe, doch Ihr nehmt mir weder dieses elende Leben, noch kommt Ihr mir gegen den Tod zu Hilfe.“

Den Gesualdos beim Leiden zuzuhören, ist Hochgenuss.

Henning Bleyl