„Immer bist du zuerst beim Führer“

Alltägliches und „Banales“ statt der großen „Schreckensbilanz“: Mit einem Theaterexperiment bespielt das MOKS eine Ausstellung zu Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus in der Unteren Rathaushalle

„Wir präsentieren kein komplettes Bild. Das Ringen um Vorstellen und Urteilen ist der Knackpunkt.“

„Immer bist du zuerst beim Führer“, mault eines der Kinder. Sie spielen „Reichsautobahnen“, ein seinerzeit äußerst populäres Brettspiel in den Grenzen von 1937. Österreich ist aber schon voll integriert. Mit Braunau am Inn und Linz als wichtigen Haltepunkten. Ja, ja, die Autobahnen … Wie war das? Jung zu sein in Bremen „unterm Hakenkreuz“.

Die Schulgeschichtliche Sammlung Bremen hat eine Ausstellung zum Thema für die Untere Rathaushalle eingerichtet. „Die haben uns gefragt, ob man nicht etwas dazu machen kann, und zwar in der Ausstellung selbst“, erzählt Klaus Schumacher, künstlerischer Leiter des MOKS, des Kinder- und Jugendtheater-Ensembles am Goetheplatz-Theater. Also hat er, gemeinsam mit Dramaturgin Rebecca Hohmann, „Hans und Grete“ entwickelt, ein Theaterexperiment, das „Lebendigkeit und Erfahrungsaspekte“ in den Raum mit Vitrinen und Flachware bringen soll.

„Hans und Grete“, das klingt nach Märchen. Und wer ist die böse Hexe? Die Nazis etwa, denen es mit List und Glück zu entkommen gilt? So ist es nicht. Als Absolventen des Hildesheimer Studiengangs für Kulturwissenschaften (vormals: Kulturpädagogik) haben beide im MOKS eine Wirkungsstätte gefunden, die es zulässt, dass Theater im Kinder- und Jugendbereich auch „forschen und Untersuchungen machen“ kann. Was diesem Projekt sehr zugute kommt. Denn es kommt ohne „So war’s und nicht anders“-Gestus aus.

Grete und Hans sind Geschwister aus der Neustadt. Sie haben Freundinnen und Freunde, MitschülerInnen, Eltern und Lehrer. Schumacher: „So haben wir ein Spektrum von Möglichkeiten, wie man sich dem System gegenüber verhalten haben könnte.“ Er betont: „Uns war es wichtig, eine klare Einteilung in gut und böse zu vermeiden, die Figuren sollen widersprüchlich sein. Es muss schwer sein, sich ein Urteil zu bilden.“

In der Ausstellung funktioniert das mit einem geschickten Griff. Ein Kamerateam will einen Dokumentarfilm über das fiktive Bremer Geschwisterpaar drehen. Sie wollen verstehen, „wie das damals funktioniert hat“. Ausstellungsbesucher und Publikum wohnen also einem Dreh bei, mit dem sie durch die Ausstellung wandern. So gerät die zeitliche Distanz zu dieser – in vielem völlig anderen – Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen nie aus dem Blick.

„Wir präsentieren kein komplettes Bild, das wir einfach behaupten. Das Ringen um Vorstellen, Verstehen und Urteilen ist der Knackpunkt.“ Nicht die „große Schreckensbilanz dieser Zeit“ rücke ins Zentrum, „sondern jene Momente, da sich das Monströse und Mörderische im Kleinen, Alltäglichen und Banalen spiegelt.“

„Hans und Grete“ folgt den in der Ausstellung thematisierten Elementen jugendlicher Lebenswelten im Nationalsozialismus: Schule, HJ, Bunker, Kinderlandverschickung. Und doch will und ist dieses Theaterexperiment mehr als bloße Illustration. Das „Wir drehen einen Film“-Spiel wird gebrochen, wenn Dokumente oder Interviews mit Zeitzeugen in das aktuelle Spielgeschehen eingespeist werden. Die Dokumentation bleibt fragend, nähert sich an.

Etwa wenn man als Zuschauer zugeben muss, wie schwer das Urteil manchmal fällt, wenn’s um die Mikroebene des Alltäglichen geht. Das wird wohl nie so deutlich, wie in der Sequenz, wo ein jüdisches Mädchen vom Klavierunterricht ausgeschlossen wird. Der Grund ist natürlich eine Erweiterung antisemitischer Praxis. Dann zischt Grete der Mitschülerin hinterher, dass sie „sowieso eine Zicke“ gewesen sei – immer schon.

„Hat ein jüdisches Mädchen nicht das ‚Recht‘, als Zicke behandelt zu werden?“, fragt Schumacher. Und berührt einen ganz zentralen Punkt. Nämlich den, dass Menschenrechte, Zivilcourage oder was immer man an guten Worten dafür finden mag, nur funktionieren kann, wenn persönliche Sympathie abgekoppelt wird.

In diesem Punkt wird es plötzlich ganz aktuell. Das jüdische Mädchen verschwindet. Sie wird nicht mehr wieder kommen. Wir wissen warum. Allein, das „Recht“, ermordet zu werden, hat niemand. Das kümmert die Figuren in „Hans und Grete“ indes wenig. Noch sind sie auf dem Weg in die Gesellschaftder Nürnberger Rassegesetze.

Tim Schomacker

Premiere: morgen 10. September, um 20 Uhr in der Unteren Rathaushalle. Bis zum 3. Oktober. Anmeldung für Schulklassen unter ☎ 0421/361 30 30.