Die Mafia verliert die Geduld

Weil in Italien die von Silvio Berlusconi initiierten Justizreformen nur ihn und seine Mitarbeiter schützen, nicht aber die Mafia, droht diese nach einem Bericht des italienischen Inlandsgeheimdienstes, mafiafreundliche Berlusconi-Mitarbeiter zu ermorden

aus Rom MICHAEL BRAUN

Nach neun Jahren des absoluten Stillhaltens steht Cosa Nostra womöglich vor neuen spektakulären Morden. Dies jedenfalls behauptet ein am Samstag von der römischen Tageszeitung La Repubblica enthüllter Bericht des italienischen Inlandsgeheimdienstes Sisde. Pikant sind sowohl das genannte Motiv als auch die potenziellen Opfer: Die Mafia fühle sich von der Berlusconi-Regierung im Stich gelassen und erwäge deshalb, mit den Abgeordneten Marcello Dell’Utri und Cesare Previti zwei Personen zu ermorden, die seit je zur Entourage des Ministerpräsidenten gehören. Dabei könne ihnen nicht ihre Gegnerschaft zur Mafia, sondern ihre wirkliche oder vermeintliche Nähe – so der Bericht – zum Verhängnis werden.

In den letzten Monaten schon mehrten sich die Zeichen wachsender Unruhe vor allem unter den inhaftierten Bossen. Im Frühjahr schlug Mafiosi Pietro Aglieri einen „Friedensvertrag“ zwischen Mafia und Staat vor. Dafür seien die einsitzenden Mafiosi bereit, sich von Cosa Nostra „loszusagen“. Dem folgenlos gebliebenen Angebot folgten Drohungen. Im Juli traten 71 Mafiosi in den Hungerstreik, um gegen ihre verschärften Haftbedingungen zu protestieren. Leoluca Bagarella, der Schwager des Oberpaten Totò Riinas, erklärte, die Bosse seien es „leid, gedemütigt, schikaniert und von politischen Kräften als politische Tauschware gebraucht zu werden“.

Darauf gab es die Drohungen in einem Brief von 31 Mafiosi noch mal schriftlich. Diesmal mit schon konkreteren Adressaten: „Wenn das Gesetz [über die Haftbedingungen von Mafiosi; die Red.] nicht geändert wird, werden wir zu drastischeren Formen des Protestes übergehen. … Was tun eigentlich die Anwälte aus Süditalien, die heute in den zuständigen Parlamentsausschüssen sitzen? … Früher standen sie an vorderster Front in der Kritik an diesem Gesetz.“

Auch der Sisde-Bericht geht jetzt davon aus, dass die Mafia von Berlusconi enttäuscht ist. Dessen Justizreformen zielten darauf, Berlusconi selbst und seine Mitarbeiter – vorneweg Previti – vor dem Zugriff der Staatsanwälte zu retten. Die Reformvorhaben, die der Mafia am Herzen liegen, kämen dagegen nicht voran. Obwohl Mafiosi in Sizilien immer wieder zur Wahl von Berlusconis Forza Italia aufriefen, obwohl mit Marcello Dell’Utri einer von dessen engsten Mitarbeitern in Palermo wegen Unterstützung einer mafiosen Vereinigung vor Gericht steht, liegen die einschlägigen Gesetzentwürfe in den Parlamentsausschüssen auf Eis.

Neben der Abschaffung der Sonderhaft wollen die Bosse vor allem eine andere Kronzeugenregelung. Aussagen von Kronzeugen sollten nur noch dann beweiskräftig sein, wenn sie zugleich durch „objektive Beweise“ gestützt sind. Da die Mafia selten Protokolle ihrer Sitzungen verfasst, ließe sich mit einem solchen Gesetz mühelos die Revision aller Mafia-Urteile beantragen. Die lebenslang einsitzenden Bosse wären auf freiem Fuß.

Um endlich Resultate zu sehen, seien die Bosse nun auch wieder zum Mord bereit, so Sisde. Allerdings wollten sie „nicht die Helden spielen“ und prominente Mafiagegner, wie die 1992 ermordeten Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, um- und so die Öffentlichkeit gegen sich aufbringen. „Ertragreicher“ sei der Mord an Personen, die als „durch Mafiaverbindungen kompromittiert angesehen werden“. Marcello Dell’Utri sei da einfach ein „ideales Ziel“, ebenso wie Cesare Previti.

Das Szenario hat ein historisches Vorbild: 1992 erschossen Mafiosi den Christdemokraten Salvo Lima. Siziliens mächtigster Politiker und Andreotti-Freund stand zeitlebens im Ruch allzu guter Kontakte zu Cosa Nostra und wurde dennoch beseitigt. Auch der damalige Regierungschef Andreotti hatte versäumt, der Mafia mit Hafterleichterungen entgegenzukommen.

meinung SEITE 13