Die Seehund-Seuche greift über

Dem neuen Seuchenzug des Staupevirus sind mittlerweile 6.900 Tiere zum Opfer gefallen. Nun ist auch die deutsche Küste stark betroffen, ein Aussterben wird aber nicht befürchtet. Naturschützer fordern Untersuchung der dänischen Nerzfarmen

von MANFRED KRIENER

6.900 tote Seehunde haben die Naturschützer bisher an den Küsten von Nord- und Ostsee gezählt, davon 1.430 in Deutschland. Seit zwei Wochen sterben die Seehunde in Niedersachsen, auf Helgoland und in Schleswig-Holstein. Mittlerweile sind fast alle Nord- und Ostsee-Anrainer betroffen: Schweden, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik.

Vieles spricht dafür, dass die Seuche erst begonnen hat. Das Zentrum liegt im Kattegatt, dem flachen Seegebiet der Ostsee zwischen Jütland und Südschweden. Dort, rund um die kleine dänische Insel Anholt, war die Krankheit im Mai ausgebrochen.

Auch vor 14 Jahren war die winzige Insel der Ausgangspunkt des ersten großen Massensterbens gewesen. Im heimischen Wattenmeer verendeten im Jahr 1988 fast zwei Drittel der Seehunde – rund 6.000 Tiere. Insgesamt fielen dem Virus 20.000 Seehunde zum Opfer.

Jetzt also wieder Anholt. Das kann kein Zufall sein, sagen die Naturschützer und fordern schnelle Klärung. Eine Sonderkomission „Soko Seehund“, besetzt mit internationalen Wissenschaftlern, soll der Ursache auf den Grund gehen, forderte die Schutzstation Wattenmeer gemeinsam mit anderen Organisationen. Die Politik, glaubt Stationssprecher Lothar Koch, habe die Botschaft verstanden und wolle eine entsprechende Forschergruppe einsetzen.

Im Fadenkreuz der Untersucher werden dabei die dänischen Nerzfarmer stehen. In Dänemark sind Anzahl und Dichte der Nerzfarmen an der Küstenlinie ziemlich hoch. Der Nerz, sagt die Robbenexpertin Ursula Siebert vom Forschungs- und Technologiezentrum Westküste, sei sehr empfänglich für das Staupevirus, und er stehe der Robbe entwicklungsgeschichtlich nahe. Siebert: „Da ist ein Zusammenhang plausibel.“

Andererseits weist die Pelztierindustrie darauf hin, dass unter ihren Tieren in diesem Jahr keine Staupe-Epidemie aufgetreten sei. In Schweden werden deshalb auch Wildnerze als mögliche Seuchenauslöser untersucht. Die bisher plausibelste Theorie: Das Virus hat im Bestand der wild oder domestiziert lebenden Nerze überlebt. Schon 1988 hatte es auf dänischen Nerzfarmen ein Massensterben durch das Staupevirus gegeben. Die Nerze wiederum könnten sich damals bei Schlittenhunden angesteckt haben. Bewiesen ist aber nichts. Nach der Seuche von 1988 waren die Forschungsgelder schnell wieder eingedampft worden.

Eine aktive Bekämpfung der Seuche ist unmöglich. Es existiert weder eine Therapie noch ein Impfschutz. Naturschützern bleibt nur der Job, die Kadaver einzusammeln und zu entsorgen. Sie werden zu Tiermehl verarbeitet und in Zementwerken verheizt. Das Virus wird durch Tröpcheninfektion übertragen.

Dennoch scheinen die Seehunde bei dieser Epidemie etwas robuster zu sein, jedenfalls ist bisher kein Massenexitus innerhalb kürzester Zeit zu beobachten. Seehundexperte Koch aber macht sich keine Illusionen. Er rechnet fest damit, dass die Epidemie wie 1988 „ihren Durchmarsch machen wird“. Ein gutes Drittel der Tiere könnte aber überleben, um sich im besten Fall anschließend schnell zu erholen. Auf rund 22.000 Seehunde war der Bestand im Wattenmeer zuletzt angewachsen. Die Population war damit mehr als doppelt so hoch wie 1988, vor Beginn des ersten Massensterbens. Bei gleicher Dynamik würden diesmal allein im Wattenmeer 12.000 Tiere verenden.