Als Resultat bloß Lethargie

Zur Spielzeiteröffnung am Thalia Theater: Oberspielleiter Andreas Kriegenburg inszeniert Lessings Jugendstück „Miss Sara Sampson“ als ausweglos düsteres Tafelbild mit ergebnislosen Tiefgründeleien über zugefügtes Leid

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Nichts geht. Keine Chance. Komplettstillstand, Entscheidungsunfähigkeit. Thalia Theater-Oberspielleiter Andreas Kriegenburg inszeniert Miss Sara Sampson, ein Jugendstück Gotthold Ephraim Lessings, zur Spielzeiteröffnung des Hauses als düsteres, auswegloses Jonathan-Meese-Tafelbild. Statt eines Wirtshauses hat Bühnenbildnerin Johanna Pfau, von der auch die äußerst stimmigen Kostüme stammen, einen versifften, lichtlosen Underground-Bunker konstruiert. Den Göttern auf den unansehnlichen Wandgemälden sind die Köpfe abgeschnitten, nur die Wolken, auf denen sie einmal saßen, sind noch zu erkennen und die aus ihnen unheilsvoll herausstechenden Posaunen.

Der ganze Aufbau dreht sich um die eigene Achse. Im Wirtshaus sind von innen illuminierte Schreine in die Wand eingelassen – sakrale, fast kitschige Kneipenseligkeit, würden in ihnen nicht zerschlagene Babyköpfe und herabgefallenes Laub liegen. Wie Kerkerzellen die Zimmer der Protagonisten, nur das weiße Kreuz, an das sich Sara selbstmitleidig nagelt, wird hier regelmäßig nachpoliert; der Boden voll Unrat, die Wände verschmiert und verkokelt.

Die Ausweglosigkeit wird dadurch noch bestärkt, dass das dramatische Personal sich geschlossen auf dieser Drehscheibe aufhält und die rotierende Bewegung nur eine scheinbare ist: Kneipenraum und Abstellzimmer tauchen abwechselnd spiegelverkehrt auf und verstärken so nur die Orientierungslosigkeit.

Die Handlung steht dabei hinten an. In zwölf Zeilen gibt der Thalia-Spielplan den kompletten Inhalt der Tragödie wieder. Unter anderem: „ausschweifendes Leben“, „verliebt und flüchtig“, „ehemalige Geliebte“, „gemeinsame Tochter“, „verzeihen“, „erfährt die Wahrheit“, „vergiftet“ und „erdolcht sich“. Warum sich Kriegenburg dennoch – und nicht ohne Längen – an Lessings Plot entlanghangelt, ist unklar. Wenn die Bildsprache bereits so überdeutlich und die Handlung derart absehbar ist, was sollen zweieinhalb Stunden, wenn auch grandiosen Schauspiels dem hinzufügen? Ergebnislose Tiefgründeleien: Darüber, wer wem welches Leid zufügt, wer tugend-, stand- und lasterhafter ist. Die Antwort: alle alles.

Das war schon dem 26-jährigen Lessing bekannt und wurde vom 39-jährigen Kriegenburg nur einmal mehr in den staubigen, hexenhaften, von den Toten zu den Lebenden erweckten Fratzen Sara Sampsons (Maren Eggert), Mellefonts (Helmut Mooshammer) und Marwoods (Natalie Seelig) festgeschrieben, ohne neue Erklärungen oder Auswege. Hier überwiegt das Laster, Lessings Optimismus ist tot: Jedem gebührt sein Schmerz, jedem seine unendlich schwere Bürde an der eigenen abgründigen Seele und der der anderen.

Dies zu ertragen, daran scheitern Kriegenburgs Figuren – das Resultat ist Lethargie. Die Sehnsucht nach Unverletzbarkeit wurde bereits in der Wiege zerschlagen: wie die Babyköpfe auf dem Kneipenaltar, wie Arabellas (Julia Brawand), Tochter Mellefords und Marwoods, überdimensionale, zersprungene Kopfprothese.

Manchmal steigt aus den goldenen Lichtschatten eine funkelnde Marien-Erscheinung; doch insgesamt steht die Religiösität des Bühnenbilds der Handlung wie ein interpretatorischer Rettungsanker anachronistisch gegenüber. Moderne Texteinsprengsel erheischen Publikumslacher, ein kurzes Puppenspiel provoziert Szenenapplaus.

Überhaupt: Die Puppen. Das dionysisch ränkende Triumvirat Sara-Mellefont-Marwood, saugt die Lebenssäfte aus Arabella und den Komparsinnen Betty und Hannah (beide Claudia Renner), die nurmehr wie schlaffe Sandsäcke von ihnen bewegt werden. Sara Sampson stirbt allein. Bei Kriegenburg gibt es keine Vergebung, keine Ehre, keine Hoffnung wie noch bei Lessing. Doch in Hoffnungslosigkeit ist leicht zu machen, zu jeder Zeit.

nächste Aufführungen: Mo, 16. + Fr, 27.9, 20 Uhr, So, 29.9., 19 Uhr, Thalia