Der Rest geht in die „FAZ“

Was es mit dieser raffinierten Überschrift auf sich hat, verrät der folgende Zugtext

Vier Tische von mir weg sitzt ein junger Mann mit Scharfdenkerbrille. Er ist: „…ja, der Waldi“

Und ewig lockt der Speisewagen mit seinen Sensationen: Kaum bin ich am Berliner Ostbahnhof eingestiegen, gehen die Abenteuer auch schon los. Ein Mann von bemerkenswertem Äußeren hockt sich an den Nebentisch. Von unten nach oben sieht er so aus: Er trägt weiche schwarze Reebok-Schuhe, weiße Socken, schwarze enge Jeans, am Gürtel ein gefülltes Handyholster, einen großen Karabinerhaken, ein Allzweckwerkzeug im Etui, und sein in der rechten Gesäßtasche steckendes Kellnerportemonnaie ist mit einer langen, silbernen Kette links an einer Gürtelschlaufe befestigt. Ein schwarzes Ledergürteltäschchen hat er um die Hüften geschlungen, die Ausbuchtung vorn, sie liegt weich auf seinem Geschlecht. Oben trägt er ein weißes T-Shirt mit einer kleinen Plautze drin, am linken Handgelenk eine Armbanduhr mit schwarzem Lederarmband, die Uhr nach innen gedreht, am rechten Armgelenk ein schwarzes Frottee-Schweißband. Aus dem ansonsten glatt rasierten Gesicht ragen ein wuchtiger dunkelblonder Schnauzbart und ein ebensolches Bartdreieck unter der Unterlippe hervor, eine Art Frank-Zappa-Barttracht, darüber sitzt eine Brille, Modell Kassengestell-aber-teuer. Eine Stirnglatze zieht sich bis zur Kopfmitte, dafür trägt er das dünne Resthaar aber schulterlang. Er liest die Süddeutsche, an seinem schwarzen Rucksack ist außen auch die Zeit festgezurrt. Er zückt sein Telefon, wählt und spricht sonor hinein. „Die toben da oben in Schläfrig-Holstein rum“, sagt er, und weil der trostlos langweilige Witz der einzige ist, den er hat, macht er ihn gleich noch einmal: „Ja, da oben in Schläfrig-Holstein.“

Es gibt zauberhafte Kalauer, mein liebster ist von Rattelschneck und heißt: „Über mir schwebte ein Damenkloschwert.“ Aber „Schläfrig-Holstein“? Bitte nicht! Der Tischnachbar verrät mir unbeabsichtigt noch, dass er in einer Arbeitsgruppe „Kirche und Diakonie“ beschäftigt ist, Seminare gibt und „so um viere wieder in Bielefeld aufschlagen“ will. Bis es so weit ist, trinkt er zwei halbe Liter „Schöfferhofer Hefeweizen“ und isst das „zarte Rinderragout in Senf-Biersauce mit Salzkartoffeln“. Die Zeit, das ist das Schicksal dieses Altpapiergetüms, bleibt ungelesen.

Drei Tische weiter sitzt eine Frau in schwarzem Blouson mit rechteckiger, randloser Brille und Antje-Vollmer-Frisur, um den Hals trägt sie ein dickes silbernes Kreuz. Sie trinkt „Mineralwasser – Selters“, arbeitet am Laptop, und als sie mit ihrem Tischnachbarn spricht, spitze ich die Ohren: Ist das nicht die Bruchsteinstimme von Antje Vollmer? Nein, nicht ganz. Wäre sie es wirklich gewesen, dann hätten schon ganze zwei Biblisten etwa um viere wieder in Bielefeld aufschlagen können. Sie steigt aber in Hannover aus und sieht beim näheren Hinsehen auch viel zu wenig protestantisch verbiestert aus, um Antje Vollmer gewesen zu sein, und sei es nur für zwei Stündchen im Zug.

Vier Tische von mir weg, einmal die ganze Diagonale des Speisewagens entfernt, sitzt ein junger Mann mit Scharfdenkerbrille. Er ist, wie ich erfahren muss, als er offenen Halses telefoniert: „… ja, der Waldi.“ Wer noch nicht wusste, was eine Selbstbezichtigung ist, der weiß es jetzt – „… ja, der Waldi“, wie ein Dackel oder ein devoter Fernsehsportschrecken. Wer das selbst von sich sagt, der muss dann eben auch „der Waldi“ heißen. Und sein, auf ewig.

Ich sitze da, fahre, schaue, höre, staune und bringe auf dieser kleinen Reise nach Dortmund zwei Mineralwasser und die „Matjesfilets ‚Hausfrauenart‘ mit Petersilienkartoffeln“ ohne schlimmere Folgen hinter mich. Erfreulich dezent beträgt sich der etwa 50-jährige, schütter weißhaarige Geschäftsmann mit Reiseziel Duisburg, der mir gegenüber am Tisch Platz nahm; zum Telefonieren geht er rücksichtsvoll aus dem Waggon. Allerdings hat er, obwohl er aus dem Alter für modische Tölpeleien längst glücklich heraus sein sollte, zu viel vom viel zu süßen Rasierwasser aufgelegt. Er trinkt Wasser, liest die FAZ und hat die „Gebackene Kartoffel mit Sauerrahm und Salatgarnitur“ gewählt. Er isst sie mit einem Teelöffel und nimmt die linke Hand zu Hilfe; eine Serviette verschmäht er und leckt geräuschvoll die Finger ab. Der Rest geht dann in die FAZ. WIGLAF DROSTE