Der Sauerteig der Moral

Warum treten junge Menschen für Gerechtigkeit ein? Weil sie den klassischen Widerspruch der moralfeindlichen Linken seit Marx überwinden. Ein Plädoyer des Sozialphilosophen Gerald A. Cohen

„Manche Leute sind einfach Sozialisten, so wie andere Leute Ufo-Fans sind“

von ROBERT MISIK

Seit dem erstaunlichen Aufstieg der globalisierungskritischen Bewegung ist von manchen Beobachtern das Urteil zu hören gewesen, hier sei eine neue moralische Bewegung auf dem Plan getreten, ja ein Ethos am Wirken. Diese an sich freundlich gemeinte Beurteilung brachte nicht wenige der Gemeinten in Rage, Motto: Wir sind Linke, keine Moralisten. Eine Empörung, die sich nur aus der Geschichte linken Denkens entschlüsseln lässt, das Begriffe wie „Moral“ und „Ethos“ erfolgreich mit drögem Moralismus, schierer Weltfremdheit verbunden hat.

Ihren Ursprung hat diese „Moralfeindlichkeit“ ohne Zweifel bei Karl Marx selbst, der ja nach verschiedenen Seiten hin gekämpft hat, nicht zuletzt gegen einen „utopischen Sozialismus“, der nur das menschliche Wollen umkreiste und sich um die Wirklichkeit nicht scherte. Für den historischen Materialisten Marx sollte dagegen der Kommunismus aus der „wirklichen Bewegung“, also den aktuellen Tendenzen der kapitalistischen Ordnung selbst, folgen. Marx’ Nachfolger machten daraus nicht selten einen Determinismus, der den Sozialismus zwangsläufig aus dem Kapitalismus entstehen sah.

Warum sich Individuen dann dafür entscheiden sollten, für den Sozialismus einzutreten, und was diese Entscheidung am Lauf der Dinge eigentlich ändern sollte, konnte eine solche Haltung freilich nicht recht erklären.

Dieses linke Urvertrauen ist heute tief unter den Trümmern der Geschichte vergraben, und so kehrt die Frage der Moral zurück: die Frage, warum sich Menschen dafür entscheiden, für mehr Gleichheit, mehr soziale Gerechtigkeit einzutreten, ja warum manche das selbst dann tun, wenn sie ihre Zeit besser nutzen könnten, etwa um viel Geld zu verdienen.

Der Sozialphilosoph Gerald A. Cohen, selbst ein Veteran der alten amerikanischen Linken, ist nun auf etwas mehr als 200 Seiten der Frage nachgegangen, wie großer Moral es bedarf, um sich auf Seiten der Linken zu engagieren – und wie man zu ihr kommt. Die Vorstellung, der Kapitalismus werde, allenfalls „mit ein bisschen Hilfe von den Freunden des Sozialismus, den Sozialismus selbst hervorbringen“, ist für ihn der Grundirrtum der Linken Marx’scher Tradition. Dabei war die „streng tatsachenbezogene“ Selbstbeurteilung schon zu Marx’ Zeiten Prahlerei, da jede Politik sich von Idealen inspirieren lässt und Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit auch in dessen Denkstrukturen eingelassen waren. Auch die Arbeiterparteien marxistischer Prägung waren von einem Gleichheitsethos der einfachen Leute getragen, das über Generationen weitergegeben wurde und in dem sich verschiedene Traditionen mischten.

Cohen bescheibt das in Passagen autobiografischen Charakters eindrucksvoll an seinem eigenen Werdegang, wie er als Sohn jüdischer Einwanderer sowohl die Unterklassenmoral in sich aufnahm, als auch die emanzipatorischen Erzählungen des Judentums aufsog: dass der Mensch kein Sklave sein soll (wie „in Ägyptenland“).

Dass eine gerechte Gesellschaft nicht bloß durch gerechte Regeln konstituiert werden kann, sondern Menschen braucht, die „gerechte persönliche Entscheidungen“ treffen, ist eine Schlüsselfeststellung für eine moderne, postmarxistische Linke. Gerechte Gesellschaften können nicht entstehen, so Cohen, ohne ein „Ethos der Gerechtigkeit“, das sich in das Alltagsleben der Menschen einzuschreiben vermag, und es bedarf des „Sauerteigs der Moral“, um „unterschiedliche Menschen miteinander zu verbinden“ – sei es, um Solidarität zu üben, sei es, um Umverteilungsmaßnahmen zu akzeptieren, sei es, um sie zu gemeinsamem politischem Handeln zu motivieren.

Mit dem Wegfall der historischen Gewissheiten und der Fragwürdigkeit der These, dass bloße dialektische Volten schon das Gute aus dem Schlechten wachsen lassen, rückt also die Frage des menschlichen Willens ins Zentrum. Die Frage etwa, warum sich junge Menschen für Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen engagieren in einer Gesellschaft, die diese stetig diskreditieren.

Warum sie sich dafür entscheiden, gegen die inneren Bewegungsgesetze dieser Gesellschaften zu revoltieren, zumal die Erinnerungsketten der plebejischen Tugenden längst zerrissen sind.

Zuallererst müssen wir, so Cohens schlichte Grundthese, der Moral im linken Denken jene Ehre erweisen, die ihr gebührt. Cohen betritt keineswegs völliges Neuland: Gegen den geschichtsphilosophischen Determinismus, die teleologischen Illusionen haben schon viele unorthodoxe Marxisten von Antonio Gramsci bis Cornelius Castoriadis angeschrieben. Doch noch selten wurde so viel Gewicht auf die moralische Entscheidung des Einzelnen gelegt wie in Cohens Essay. Und er versteht es, für seine Sache überzeugend einzutreten. Die Beweggründe, die Jugendliche der Fun-Generation dazu bringen, gegen die Macht der Multis zu revoltieren, lassen sich wohl nur aus solcher Perspektive schlüssig erklären. Was in modernen Gesellschaften eigentlich linke Tugenden generiert und stärkt, dieser Frage widmet sich Cohen freilich nur am Rande – sie wäre aber auch Arbeitsaufgabe für eine monumentalere Untersuchung.

Dass er den Aporien von Determinismus einerseits, menschlichem Willen andererseits nicht allzu viel Platz schenkt, sei Cohen nicht vorgeworfen, sie sollten aber nicht gänzlich vergessen sein: Dass eine Revolte wenig Sinn hat, die nur auf den Willen rekurriert, den Horizont des historisch Möglichen aber nicht im Auge behält, wäre ein denkbarer Einwand. Und ebenso: dass die historische Siegesgewissheit der alten Linken die Moral nicht ausgeschaltet, sondern die Kämpfe der Arbeiterbewegung auch angefeuert hat. Und es sei zumindest daran erinnert, dass auch eine Philosophie des bloßen Willens nicht ohne Gefahren ist: Es gab schon Strömungen in der Linken, von Sorel bis Baader/Meinhof, die damit eine vitalistische, pseudonietzscheanische Willens- und Tatphilosophie begründeten.

Vor allem aber kann die „schwache“ politische Entscheidung, für linke Ideale einzutreten, die „starken“ Bande der alten Linken möglicherweise auch dann nicht ersetzen, wenn wir Cohen folgen. Wie hat doch der britische Theoretiker Terry Eagleton einmal formuliert? „Manche Leute, so scheint es, sind einfach Feministinnen oder Sozialisten, so wie andere Leute Ufo-Fans sind.“ Dies vor allem ist das Problem, für das auch Cohen keine Lösung hat: Manchmal ist zwischen linkem Ethos und Radical Chic nur schwer zu unterscheiden.

Gerald A. Cohen: „Gleichheit ohne Gleichgültigkeit. Politische Philosophie und individuelles Verhalten“, 329 Seiten, Rotbuch-Verlag, Hamburg 2001, 23,50 €