Die größte Geschichte aller Zeiten

Wie die Wahrheit einmal Ussama Bin Laden traf und dabei in den Hinterhof der Hölle geriet

Donnerstag, 15. 8. 2002,11.30 Uhr, Damaskus

Mahmud lächelte, und immer wenn er lächelte, bedeutete dies Gefahr. Wir betraten ein Schmuckgeschäft in Damaskus. Die Auslagen waren mit Gold und Juwelen überladen, aber vom Besitzer fehlte jede Spur. Mahmud lächelte wieder: „Sie wollten Bin Laden treffen. Hier ist er …“ Dann verschwand er hinter dem Tresen und hob den schweren Vorhang an, sodass wir hindurchschlüpfen konnten.

Eine Woche zuvor, 8. 8. 2002, 14 Uhr, Berlin

Die größte Geschichte aller Zeiten begann wie alle Geschichten der Wahrheit mit einem Zufall. Björn Blaschke war vor kurzem nach Amman gezogen und saß nun als Radiokorrespondent in der jordanischen Hauptstadt. Von dort aus sandte er seine „Arabiata“-Kolumnen, die von Zeit zu Zeit auf der Wahrheit-Seite erscheinen. Eines Tages berichtete Blaschke am Telefon von Rania Kurdi, einem arabischen Superstar, den er kennen gelernt habe: „Eine echte Brummsuse“, nannte Blaschke die Sängerin und Schauspielerin, deren letzte CD, „Rania“, genau wie das Video „Ma Btezha’a“ die Charts aller arabischen Sender gestürmt hatte. „Fehlt nur noch, dass sie mit Hartmut El Kurdi verwandt ist“, meinte ich, als ich ihren Namen hörte. El Kurdi ist wie Blaschke Wahrheit-Kolumnist und lebt zwar nicht in Amman, dafür aber in Braunschweig. Und tatsächlich sind Hartmut und Rania Verwandte, wie sich kurz darauf herausstellte. Sie sind Cousin und Cousine und hatten sich seit ihrem vierten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Hartmut El Kurdi war denn auch ein wenig verblüfft, als er von der Karriere seiner Cousine erfuhr. Das plötzliche Interesse an Rania Kurdi in Deutschland ließ die Plattenfirma jedoch aufhorchen, und so lud Emi Music Arabia mich völlig überraschend zu einem Interviewtermin nach Amman ein. Wo Geld für einen Journalisten ist, da gibt es auch genug für zwei, ahnte ich, und eine Familienzusammenführung sei doch alle Kosten wert. Also fragte ich in Amman an, ob Hartmut El Kurdi mich begleiten könne. Emi Music Arabia stimmte sofort zu.

Montag, 12. 8. 2002,15.30 Uhr, Wien

Vom Flughafen Wien hob die Maschine der Royal Jordanian mit Hartmut El Kurdi und mir an Bord ab. Am Flughafen Amman erwartete uns Björn Blaschke, sichtlich erfreut über den Besuch. Am Abend lud er uns in einen Club ein, in dem die „Ammänner und Ammaneusen“ ihr Nachtleben zelebrierten, wie Blaschke erklärte. Wir landeten im „Dunes“, das Blaschke uns als „Nudes“ vorstellte, um gleich darauf die teuren Aufnahmegebühren für den vom gewöhnlichen Volk streng abgeschirmten Club zu beklagen. Offenbar hatte er aber den Clubbesitzer mit seinen Klagen dazu gebracht, ihm ein kostenloses Gastrecht zu gewähren, das wir jetzt weidlich nutzten, um allerlei sonst in Amman verbotenen Getränken zuzusprechen und uns am Pool zu räkeln. Morgen sollte das Interview stattfinden, und der Morgen war noch weit.

Wir sprachen über Rania Kurdi und prahlten – wie es sich für anständige Journalisten gehört – mit den wichtigen Menschen, die wir schon interviewt hatten. „Ussama Bin Laden“, feuerte ich in die Runde und strahlte dabei. „Quatsch!“, kam es wie aus einem Munde zurück. „Ich meine, Ussama Bin Laden würde ich gern mal interviewen“, sagte ich und erzählte dann, dass wir einmal Bin Laden in seinem Haus in Kandahar angerufen hatten, er aber nicht an den Apparat gegangen sei. Wir lachten immer noch, als sich plötzlich jemand vor uns aufbaute. Mahmud trug eine Sonnenbrille, als ob er damit geboren worden sei. In seinem teuren, weißen, wenn auch etwas altmodischen Anzug erinnerte er an einen britischen Kolonialoffizier im Ruhestand, und sein buschiger grauer Schnurrbart schien jeden Morgen von einem Adjutanten in Form gebürstet zu werden. „Entschuldigen Sie. Ich habe Ihnen zugehört“, sagte Mahmud, nahm sein Brille ab und stellte sich vor. Er habe einige Jahre in Hamburg gelebt, spreche daher Deutsch und sei jetzt zwischen Amman und Beirut unterwegs: „Export/Import“, erklärte er und entschuldigte sich noch einmal für die Störung. „Aber ich liebe Rania Kurdi“, bekannte er und ließ sich auf unsere Einladung hin nieder. Er habe ihre Karriere schon lange verfolgt und verehre die Sängerin sehr. Er würde alles dafür geben, sie einmal zu treffen.

Außerdem, erklärte Mahmud, wisse er von dem Telefonat mit Bin Laden. Nach dem Beginn des Afghanistankrieges kursierte in der arabischen Welt die Geschichte, dass deutsche Journalisten bei der Auskunft einfach Bin Ladens Nummer erfragt und ihn angerufen hätten. Bin Laden aber sei auf der Toilette gewesen, deshalb habe seine Frau den Anruf entgegengenommen, allerdings habe sie überhaupt nichts verstanden. Die Amerikaner suchten Bin Laden überall, er aber saß auf der Toilette. Ein guter Witz, freute sich Mahmud, die Urheber der Geschichte kennen zu lernen: „Ich möchte Ihnen einen Handel anbieten“, wurde Mahmud auf einmal ernst und senkte seine Stimme. Wir sollten ihm Rania Kurdi vorstellen und er würde uns einen ganz besonderen Gesprächspartner besorgen. Wir wussten sofort, was er meinte. War er nur ein arabischer Märchenerzähler oder ein Geheimdienstagent, der uns für dumm genug hielt, auf seine Geschichte hereinzufallen? Dankend lehnten wir ab, als Mahmud ein Foto aus der Tasche zog. Eine Aufnahme von Ussama Bin Laden. Der meistgesuchte Mann der Welt wirkte müde und krank auf dem Bild. Aber es war eindeutig Ussama Bin Laden, der die Titelseite der New York Times in den Händen hielt. Die Ausgabe stammte vom 2. August 2002, wie deutlich zu erkennen war. Eine Fälschung, waren wir uns schnell einig, doch langsam entwickelte die Geschichte ihren eigenen Reiz, auch weil Mahmud als Nächstes erklärte: „Es gibt noch eine Bedingung.“ Mahmud setzte seine Sonnenbrille wieder auf. „Keine Fragen, wo er ist, wie er dahin kommt, wer ihm geholfen hat!“ Mahmud lächelte, und zum ersten Mal verstand ich, was dieses Lächeln bedeutete. Wir nickten und verabredeten uns für den nächsten Morgen, in der Gewissheit, dass wir Mahmud nie wiedersehen würden.

Dienstag, 13. 8. 2002,12.15 Uhr, Amman

Mahmud wartete bereits in der Hotellobby. Wir mussten ihn mitnehmen. Morgen würde er uns dann zu Ussama Bin Laden führen, versicherte er. Rania Kurdi erwies sich dann als eine sehr freundliche und angenehme Person und schlug uns den Wunsch, ihr Mahmud vorzustellen, nicht ab. Beide unterhielten sich eine Weile, und Mahmud dankte uns schließlich überschwänglich: „Morgen werde ich Ihren Wunsch erfüllen“, versprach er und ging. Wir waren uns sicher, dass wir ihn nie wiedersehen würden.

Auf dem Fest der Kurdis am Abend berichtete Rania, dass Mahmud ihr von seiner pakistanischen Jugend erzählt habe und dass er damals nur eins gewusst habe: Eines Tages würde er eine schöne Frau treffen, die er über alles lieben wolle. Jetzt sei sein Traum in Erfüllung gegangen. Dann habe Mahmud Rania ein Heiratsangebot gemacht. Sie sei durchaus geschmeichelt gewesen und habe auch nichts dagegen, ihren Verehrer irgendwann einmal wiederzutreffen, lächelte Rania. Bis in die Nacht feierten wir, und unsere jordanischen Freunde gaben alles, um uns mit ihrer Gastfreundschaft zu verzücken, so dass wir Mahmud bald vergessen hatten.

Mittwoch, 14. 8. 2002,13.30 Uhr, Amman

Wieder wartete Mahmud in der Hotellobby. „Auf nach Damaskus!“, verkündete er. Wir sahen uns an und wehrten uns kaum noch gegen die Vorstellung, von Jordanien nach Syrien zu fahren. „Ich kenne euch Deutschen, ihr seid mutig“, lockte Mahmud. „Nicht alle Deutschen“, meinte der stets besonnene Hartmut El Kurdi. Aber Mahmud hatte zumindest mit einem Recht: Die Wahrheit war und ist immer mutig. „Wenn schon, dann die volle Lotte“, meinte der stets direkte Björn Blaschke. Ein Visum brauchten wir von Amman aus nicht, wischte Mahmud unsere letzten Bedenken zur Seite und führte uns zu einer Nobelkarosse. So saßen wir denn in dem königlich ausgestatteten Wagen und folgten dem Stern auf einer staubigen Straße ins Nichts. Was konnten wir schon verlieren als unser Leben?

Seit einer Weile verfolgte uns ein französischer Wagen älterer Bauart. Auch Mahmud hatte es längst bemerkt, versuchte uns aber zu beruhigen: „Alles normal!“ Um unsere Nervosität zu überspielen, beschimpften wir uns gegenseitig als Lawrence of Arabia und stritten uns, ob das Pferd von Kara Ben Nemsi nun „Rih“ oder „Assil Ben Rih“ heißt. Plötzlich überholte uns der Wagen, kreuzte an den Straßenrand und brachte uns so zum Stehen. Zwei Männer in taubengrauen Anzügen und mit den obligaten Sonnenbrillen vor den Augen entstiegen dem Wagen. Als sie Mahmud erkannten, zogen sie sich jedoch sofort zurück. „Alles in Ordnung!“, behauptete Mahmud und lächelte. Ohne weitere Probleme überquerten wir schließlich die Grenze und erreichten Damaskus. Und da wir schon einmal in Damaskus waren, mussten wir selbstverständlich das Wahre Lokal aus der gleichnamigen Wahrheit-Serie besuchen. Das „Hedschas“ war in einem liebevoll restaurierten Speisewagen des Orientexpress eingerichtet. Doch heute Abend bekamen wir nicht mehr als zwei Flaschen des dreiprozentigen „Barada“-Biers herunter. Wir wollten einfach nur schlafen.

Donnerstag, 15. 8. 2002,11.30 Uhr, Damaskus

Mahmud führt uns ins Basarviertel von Damaskus. Wir betreten ein Gold-und-Schmuck-Geschäft, in dem niemand ist. Wie selbstverständlich tritt Mahmud hinter den Tresen und hebt den Vorhang an. Wir schlüpfen hindurch. Unsere Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Dann erkennen wir eine Treppe, die uns Mahmud hinaufführt. Auf dem ersten Absatz hocken zwei schwer bewaffnete Kämpfer, die Maschinengewehre im Anschlag. Mahmud flüstert etwas, und die beiden Turbanträger lassen uns passieren. Wir betreten das Dach und wechseln von dort aus das Haus. Es geht wieder hinab. Ein Labyrinth tut sich vor uns auf. Minutenlang wandern wir von Hinterhof zu Hinterhof, vorbei an immer neuen bewaffneten Wachen, die zwischen Bergen schmutziger Wäsche und spielenden Katzen hocken. Bis wir vor einer schlichten Lehmhütte angelangen.

Mahmud führt den Zeigefinger an den Mund. Uns schießt das Wasser aus allen Poren, ob wegen der Anstrengung oder aus Furcht, haben wir längst vergessen. Über der Hütte brennt die Mittagssonne auf uns herab. Mahmud klopft mehrmals an. Ein Sudanese öffnet die Tür. Er ist gut zwei Meter groß und in ein weißes, burnusartiges Gewand gehüllt, als ob er sich auf der Pilgerfahrt nach Mekka befände. Hinter ihm liegt ein einziger Raum. Durch das kleine Deckenfenster dringt ein einzelner Sonnenstrahl, und der Strahlenkranz hüllt die Gestalt auf dem Strohbett in ein warmes und weiches Licht. Er scheint zu schlafen. Er atmet flach. Sein Bart hebt und senkt sich langsam. Neben dem Bett verharren still eine Frau und ein Mann, die sich von unserer Ankunft nicht stören lassen. Ein Esel, ein Rind und ein Schaf kauern neben der Lagerstatt und betrachten, an Strohhalmen kauend, den entrückten Ussama Bin Laden.

„Jetzt haben wir glatt die Geschenke vergessen“, flüstert Björn Blaschke und handelt sich dafür von mir einen Ellenbogenhieb in die Rippen ein. Bin Ladens Haut ist fahl gelblich wie die Schale einer vertrockneten Zitrone. Ein mächtiger Verband schnürt seine Schulter ein. „Er ist verwundet!“, zischt Hartmut El Kurdi. Also haben die Amerikaner ihn tatsächlich beim Angriff auf die Höhlen von Tora Bora mit einem Schrapnell an der Schulter verletzt, wie arabische Zeitungen berichteten. Nur ein Buch gibt es im Raum, der braune Einband liegt in Kopfhöhe auf dem Boden. In Reichweite seiner Hand ist eine Schale mit frischen Aprikosen platziert. Das ist eindeutig Ussama Bin Laden. „Das ist eindeutig …“, will ich gerade ansetzen, als sich plötzlich die Lider bewegen und Bin Laden seine rehbraunen Augen öffnet. Atemlose Stille. Bin Laden sieht uns an und haucht müde, aber bestimmt ein paar arabische Worte in unsere Richtung. Sofort drängt uns der massige Sudanese aus der Tür. Und er beginnt zu fluchen, wie noch nie jemand geflucht hat, laut und lauter beschwört er alle Kräfte der Hölle. Wie zur Antwort fallen Schüsse im Nachbarhof. Eine Salve zieht über unsere Köpfe hinweg. Wir ducken uns, springen um die Hausecke, ziehen uns an einer Mauer hoch, laufen in einen Eingang, laufen und laufen nur noch. Bis wir mit einem Mal auf einer belebten Einkaufsstraße stehen. Erst jetzt bemerken wir, dass Mahmud nicht mehr da ist. Polizeisirenen schrillen los, und wir wollen nur noch so schnell wie möglich unser Hotel erreichen. Später wird Björn Blaschke sagen, dass er in der Aufregung kaum etwas verstanden habe, aber Ussama Bin Laden habe wohl gefragt, ob seine Zeit jetzt gekommen sei, bei Allah.

Freitag, 16. 8. 2002,16.15 Uhr, Damaskus

Am Flughafen Damaskus trennten sich unsere Wege. Björn Blaschke kehrte nach Amman zurück, Hartmut El Kurdi und ich flogen nach Europa. Beim Abschied wurde uns noch einmal klar, dass wir die größte Geschichte aller Zeiten erlebt hatten, aber keine Beweise, keine Zeugen präsentieren konnten. Wir hatten nichts – bis auf ein Bild, das sich für immer in unsere Köpfe eingebrannt hatte: Bin Laden auf Stroh. Und Mahmud lächelte. MICHAEL RINGEL