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Die USA betreiben eine umfassende Neudefinition des Völkerrechts in Reaktion auf den 11. September. Die UNO kann nur noch abnicken

aus New York ANDREAS ZUMACH

„Mit dem 11. September 2001 hat sich alles grundsätzlich verändert. Nichts ist mehr, wie es war.“ Selbst wer diese weit verbreitete Behauptung für politisch ebenso falsch und intellektuell unredlich hält wie die nach dem Berliner Mauerfall zeitweise populäre These vom „Ende der Geschichte“, kommt um eine Tatsache nicht herum: kein Ereignis seit Verabschiedung der UNO-Charta im Jahre 1945 hat derart weitreichende Auswirkungen auf die Interpretation und die Anwendung des Völkerrechts sowie menschenrechtlicher Normen gehabt.

Der UNO-Sicherheitsrat bewertete die Anschläge in seiner einstimmig verabschiedeten Resolution 1368 vom 12. September als „bewaffneten Angriff“ auf die USA und als „Gefährdung des Friedens“ im Sinne von Artikel 39 der UNO-Charta. Sämtliche 189 Mitglieder der UNO-Generalversammlung stimmten am Abend des 12. September einer fast gleichlautenden Resolution zu. Dem Sicherheitsrat eröffnete die Qualifierung „Gefährdung des Friedens“ die Möglichkeit, die in Kapitel VII der Charta aufgeführten Zwangsmaßnahmen zu ergreifen – bis hin zum Einsatz von Waffengewalt. Von dieser Möglichkeit hat der Rat allerdings keinen Gebrauch gemacht. Allerdings erkannte er den USA zumindest implizit das Recht auf „Selbstverteidigung“ gemäß Artikel 51 der UNO-Charta zu. Folgerichtig stützen die USA ihre unter dem Namen „Enduring Freedom“ geführten militärischen Maßnahmen in Afghanistan auf die Resolution 1368. Bis heute hat keine einzige Regierung dieser Interpretation widersprochen.

Damit ist die bis zum 11. 9. gültige Interpretation der UNO-Charta, wonach nur bewaffnete Angriffe, die von Staaten ausgeführt werden – und nicht solche, die Terrroristen oder andere nichtstaatliche Akteure begehen –, dem angegriffenen Land das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 geben, überholt. Nur noch eine Minderheit unter den Völkerrechtsexperten hält an der staatsfixierten Interpretation fest. Eine etwas größere Minderheit sieht zwar die militärischen Maßnahmen der USA gegen al-Qaida durch die Neuinterpretation völkerrechtlich gedeckt, nicht aber die Ausdehnung dieser Maßnahmen gegen das Taliban-Regime mit dem Ziel seiner Beseitigung. Dazu hätte es, meinen sie, einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Sicherheitsrat bedurft.

Selbstverteidigungohne Grenzen

Nun ist bei der Interpretation von Recht auch jeweils der historische Kontext seiner Entstehung zu berücksichtigen. Die Autoren der UNO-CHarta dachten 1945 bei „Selbstverteidigung“ an militärische Abwehrmaßnahmen eines Landes in den unmittelbaren Stunden und Tagen nach einem Angriff, zumal das angegriffene Land nach Artikel 51 „unverzüglich“ den Sicherheitsrat um Beistand anrufen muss. Die militärischen Maßnahmen der USA zur Selbstverteidigung dauern aber nun schon über elf Monate an. Eine Mehrheit unter den Völkerrechtlern hält heute diese lange Dauer für legitim angesichts einer „latenten Gefahr“ erneuter terroristischer Angriffe. Die wiederholten Hinweise des Sicherheitsrates in späteren Resolutionen auf das Selbstverteidigungsrecht und seine unwidersproche Hinnahme der Aktion „Enduring Freedom“ sei als „schweigende Zustimmung“ zu begreifen. Unklar bleiben in dieser Sichtweise allerdings die rechtlichen Voraussetzungen und Kriterien für eine Beendigung der militärischen Maßnahmen.

Eine Mehrheit auch dieser Befürworter betont allerdings, dass durch die Resolutionen des Sicherheitsrates und seine „schweigende Zustimmung“ zu „Enduring Freedom“ lediglich die Maßnahmen gegen al-Qaida sowie eventuell diejenigen gegen das Taliban-Regime völkerrechtlich legitimiert seien. Der Rat habe keinen Präzedenzfall geschaffen. Maßnahmen gegen den Irak, Sudan oder andere Staaten und Organisationen erforderten neue Beschlüsse des Sicherheitsrates. Zumindest die Regierungen der USA und Großbritanniens haben deutlich gemacht, dass sie diese Rechtsauffassung nicht teilen, und dass sie die völkerrechtlichen Grundlagen etwa für Militärmaßnahmen gegen Irak bereits für gegeben halten.

Recht auf Präventivkrieg?

Die Bush-Administration nahm diese Haltung bereits in einem Schreiben ein, das ihr UNO-Botschafter John Negroponte bereits am 8. Oktober 2001 dem Sicherheitsrat vorlegte. Keiner der Botschafter der 14 anderen Ratsmitglieder widersprach damals dieser Position oder stellte auch nur eine kritische Frage. Die Bush-Regierung wertete dies als schweigende Zustimmung. Auch in der Generalversammlung regte sich seinerzeit keine Kritik. Inzwischen reklamiert die Bush-Regierung das Recht auf „präventive“ militärische Maßnahmen gegen Irak, selbst ohne einen vorherigen bewaffneten Angriff des Irak oder vom Irak unterstützter nichtstaatlicher Akteure auf die USA. Und sie behauptet, die zum Ende des Golfkrieges am 3. April 1991 vom UNO-Sicherheitsrat beschlossene Waffenstillstandsresolution 687 sei eine ausreichende völkerrechtliche Grundlage für einen erneuten Krieg gegen Irak.

Das internationale Echo darauf fiel bislang relativ milde aus. Dasselbe gilt für die Reaktion auf die im Frühjahr von der Bush-Regierung verkündete Absicht, notfalls atomare Waffen gegen „Schurkenstaaten“ einzusetzen, auch wenn diese selber keine atomaren oder andere Massenvernichtungswaffen besitzen. Die Neuinterpretation der UN-Charta nimmt immer erstaunlichere Züge an.