bettina gaus über Fernsehen
: Der große Fernseh-Talk

Geschwätz in der Kiste lässt sich abstellen – doch gegen das Geplapper davor ist der Zuschauer machtlos

„Jetzt macht er die Tür auf.“ Darauf wären wir von allein nie gekommen. „Jetzt findet er die Pistole.“ Guter Hinweis. „Jetzt weiß er alles.“ Ja, in der Tat. Wir auch. – Meine Großmutter war ein liebevoller, wunderbarer Mensch. Aber nur sehr nervenstarke Leute konnten ebenfalls liebevoll und wunderbar bleiben, wenn sie gemeinsam mit ihr vor dem Fernseher saßen. Denn von der ersten Szene bis zum Abspann beschrieb diese – sonst gar nicht besonders redselige – Frau ihrer Umgebung verlässlich, was gerade auf dem Bildschirm zu sehen war. Der Tonfilm hätte für sie niemals erfunden werden müssen.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Mitwelt vor dem Bildschirm zu nerven. „Gib mir mal die Fernbedienung. Ich will nur ganz kurz auf Viva schalten.“ – „Warum stößt du mich denn dauernd an? Ich schlafe überhaupt nicht. Und schnarchen tu ich sowieso nie.“ – „Hab ich dir schon von dem Film erzählt, in dem ich gestern war?“ – „Der Bart steht dem überhaupt nicht, und die Krawatte ist grässlich. Ich finde, Nachrichtensprecher sollten dezenter auftreten. So ein Outfit lenkt wirklich ab.“ – „Ich raschel doch gar nicht.“ – „Was guckst du da eigentlich? Hattest du nicht gesagt, du müsstest noch arbeiten?“

Eine Studie europäischer Psychoanalytiker hat jetzt – zum wievielten Mal eigentlich? – herausgefunden, dass Fernsehen angeblich das Gespräch in den Familien erstickt. Deutsche Familien reden demzufolge nur noch 25 Minuten täglich miteinander, italienische gar nur noch 18 Minuten. Wo leben die Familien, die für diese Studie beobachtet wurden? Kann mir jemand ihre Adressen geben? Ein Fernsehabend in ihrer Mitte muss ein köstliches Erlebnis sein.

Eine Umfrage der Zeitschrift tv Hören und Sehen hat kürzlich ergeben, dass sich 79 Prozent der Deutschen durch die nachmittäglichen Talkshows gestört fühlen. 78 Prozent finden die häufigen Volksmusiksendungen der ARD lästig. 56 Prozent ärgern sich über zu viel Sex bei Vox, und 51 Prozent halten die Nachrichten auf RTL II für allzu oberflächlich. Bei aller Bereitschaft zum Mitgefühl: Gegen derlei Unbill gibt es ja nun eigentlich ein ziemlich einfaches Mittel. Das Problem beginnt, wenn es nicht die Sendung ist, die einen zur Verzweiflung treibt.

Die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation hat im Fernsehzeitalter eine völlig neue Dimension erreicht. Es ist gar nicht so besonders schwierig, jemanden zu finden, mit dem man einen schönen Sonnenuntergang gemeinsam beschweigen kann. Aber wo verstecken sich die Menschen, die es schaffen, ihre Empörung über den Inhalt der ersten „Tagesschau“-Meldung so lange zu unterdrücken, dass ihre Umgebung auch die zweite und vielleicht gar noch die dritte Meldung hören kann?

Es soll tatsächlich Leute geben, mit denen ein gemeinsamer Fernsehgenuss möglich ist. Ihnen unerwartet zu begegnen gehört zu den kostbaren, seltenen Geschenken des Lebens. Eine meiner Freundinnen hielt sich vor einigen Jahren aus beruflichen Gründen in den USA auf und wurde von einem ihr bis dahin nur flüchtig bekannten Kollegen ein paar hundert Kilometer im Auto mitgenommen. Unterwegs hörten die beiden im Radio, dass an diesem Abend ein Fernsehsender sämtliche Monty-Python-Filme hintereinander zeigen würde. Rein in den Supermarkt, Chips und Erdnüsse gekauft, rein ins Motel, Zimmer gemietet, Fernseher an.

Und dann? „Dann haben wir so wahnsinnig gelacht, dass wir kaum noch Luft bekamen.“ Ja, schon recht. Und dann? „Dann sind wir weitergefahren.“ Nein, keine zauberhafte Entwicklung einer zauberhaften Liebesgeschichte, keine Hochzeitsglocken, kein wilder Sex im Nirgendwo. Einfach nur eine – im nicht ganz üblichen Sinne – wunderbare Nacht. Beneidenswert.

Einige wirklich enge Freunde würden einem im Notfall vielleicht Knochenmark spenden oder doch wenigstens Geld leihen. Eventuell sind sie sogar bereit, sich die Ursache für den Liebeskummer ein zehntes Mal anzuhören. Aber eine Sendung schweigend zu verfolgen, wenn es zur Mitteilung drängt – das schafft fast niemand. Wer nicht alle Hoffnung auf beglückende Stille fahren lassen will, muss deshalb auf diejenigen bauen, die eigentlich keine Pause im Redefluss entstehen lassen dürfen: die Macher. Wenigstens denen verschlägt es nämlich gelegentlich die Sprache. Wenn der Teleprompter versagt, zum Beispiel. Diese Szenen sind so wunderbar, dass man sie wirklich nicht allein genießen will.

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