Dichtung und Wahrheit

Moderne Oper als Mittel zur Provokation kritischen Bewusstseins: Luciano Berios mit Realitäts-Facetten spielende „La vera storia“ erlebt beim Musikfest ihre deutsche Erstaufführung

von REINALD HANKE

Es ist schon auffällig, dass Italien mehr politisch engagierte, dabei künstlerisch absolut hochkarätige Komponisten hervorgebracht hat als wahrscheinlich jedes andere Land. Giuseppe Verdi als einer der wichtigsten Gestalten der italienischen Einigungsbewegung namens Risorgimento war kein Einzelfall. Auch der mit Luciano Berio wichtigste italienische Komponist des vergangenen Jahrhunderts, Luigi Nono, hat sich immer als Komponist verstanden, der seine Tätigkeit in einem gesellschaftspolitischen Kontext ausübte. Davon zeugt unter anderem sein Musiktheaterstück Intoleranz. Wegen Nonos komplexer Musiksprache ist sein politisches Sendungsbewusstsein allerdings kaum bekannt.

Noch weniger ist bekannt, dass auch Luciano Berio, dessen Oper La vera storia jetzt beim Musikfest in der hiesigen Staatsoper die deutsche Erstaufführung erlebt, ein Musiker mit hohem gesellschaftspolitischem Ethos ist. Bei Berio ist dies allerdings oft nicht auf den ersten Blick erkennbar. Zudem untermauert er den gesellschaftspolitischen Background seiner Musik stark durch Philosophisches, was die Verständlichkeit gelegentlich behindert.

In seiner vor zwanzig Jahren an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper La vera storia beschäftigten sich Berio und sein Librettist Italo Calvino mit dem Phänomen von Massenverhalten. Es geht einerseits um die vielfältigen und kaum berechenbaren Möglichkeiten im Verhalten großer Menschenansammlungen, insbesondere um Gewaltausübung aus einer Massendynamik heraus. Andererseits geht es, wie so oft in der italienischen Oper, um Liebe zwischen Mitgliedern verfeindeter Lager und um wissentliche und unwissentliche Verstrickung in Schuld.

Das Personal von Berios La vera storia entammt Giuseppe Verdis Troubadour. Es scheint, als wären die Figuren direkt aus dessen Oper entlaufen. Bei Berio schildern sie in neuem Kontext und in subjektiver Sicht das Erlebte noch einmal. Eine zusammenhängende Handlung gibt es nicht, eher werden Schlaglichter auf eine vergangene Handlung geworfen.

Nach der Pause geschieht das Ganze noch ein zweites Mal, dann aber mit neu zusammengesetztem Text und anderer Musik. So stellt das Theater die Frage nach der „wahren“ Geschichte, nach der vera storia und überlässt es dem dem Zuschauer, die Antwort zu finden.

Um das Publikum direkt anzusprechen, hat Berio die Figur einer Cantastorie, einer singenden Geschichtenerzählerin, eingebaut. Sie versucht als kommentierende Instanz zu vermitteln. Sie bringt dem Publikum den Inhalt insofern näher, als sie sich einer volkstümlicheren Musiksprache bedient. Ihre Melodien klingen wie transponierte Songs der Popmusik: direkt, frech, dabei aber nie trivial, sondern immer mit dem Trivialen spielend. Dargeboten werden diese Songs von niemand Geringerem als Milva, die bereits die Uraufführung gesungen hat.

Auf theatraler Ebene wirkt die Cantastorie im Sinn Brechtscher Verfremdung: Die schafft Distanz und erzwingt so Reflexion. Insofern hat das Konzept, eine kommentierende Figur einzuführen, einen doppelten Boden. Schillernd ist auch die auf verschiedenen Stilebenen angesiedelte Musik Berios.

Für die deutsche Erstaufführung hat sich die Staatsoper einen Regisseur ans Haus geholt, der mit Verdi-Inszenierungen schon häufiger auffiel: Henning Brockhaus. Als langjähriger Mitarbeiter Giorgio Strehlers dürfte er sowohl dem künstlerischen Aspekt des Werks als auch der Sinnlichkeit in Musik und Handlung offen gegenüberstehen. Man darf gespannt sein, wie er den vielfältigen Chancen und Gefahren des schwierig zu realisierenden Stückes begegnet. Mit Ezio Toffolutti hat er sich zudem einen höchst renommierten Bühnenbildner mitgebracht.

Premiere: Sonntag, 15. September, 18 Uhr, Staatsoper