„Dieser Wahlkreis entscheidet“

Blick in die Bezirke für die Bundestagswahl, Teil 3: In Treptow-Köpenick will die PDS das überlebenswichtige dritte Direktmandat holen. Ein altlinker Konfektmacher aus dem Westen soll den SPD-Kandidaten schlagen

„Gegen Ernst Welters kommt es auf jede Stimme an“

von STEFAN ALBERTI

Der Bezirksname sagt den Freunden aus dem Ruhrgebiet nichts. Treptow? Köpenick? Wenn überhaupt, dann mit dem Zusatz „Hauptmann von …“ Am 22. September könnte ganz Polit-Deutschland auf den Südosten Berlins schauen. Hier, im Wahlkreis 85, entscheidet sich voraussichtlich das Schicksal der PDS und das Gesicht der zukünftigen Regierung. Ob die Sozialisten mit einem dritten Direktmandat die Fünfprozenthürde umgehen oder mit ihrem Scheitern eine Regierungsbildung ohne absolute Mehrheit ermöglichen, hängt an Ernst Welters: 58 Jahre, bärtig, 125 Kilo schwer. Und Wessi.

Welters mag das mit dem ausschlaggebenden Wahlkreis in dieser Deutlichkeit nicht sagen. Öffentlich jedenfalls nicht. Genauso wenig der Sprecher der Landespartei, der etwas von fünf Möglichkeiten murmelt. Anders die PDS-Bundeschefin: „Dieser Wahlkreis entscheidet“, wird Gabi Zimmer zitiert. In keinem Bezirk außer den sicheren Bänken Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg-Hohenschönhausen liegt die PDS so günstig wie in Treptow-Köpenick. 2,8 Prozentpunkte hinter der SPD bei der Bundestagswahl 1998, 9 Prozentpunkte Vorsprung bei der Abgeordnetenhauswahl im vergangenen Oktober.

Hanno Harnisch wollte eigentlich von hier aus in den Bundestag, der frühere Bundesparteisprecher der PDS, jetzt Feuilletonchef des Neues Deutschland. Doch die Genossen im Bezirk zogen da nicht mit. Nicht der Import von der Bundesebene sollte den Wahlkreis holen, sondern der frühere Stadtrat und Vizebürgermeister Welters. „Wir haben von 1998 gelernt, dass wird nur mit einem kommunalpolitisch versierten Kandidaten gewinnen können“, sagt Welters. Hochrangiger als vor vier Jahren ginge es auch nicht, als der damalige Parteichef Lothar Bisky überraschend scheiterte. „Da können wir jetzt nicht mit einem entlassenen Pressesprecher antreten.“

Ein Wessi soll für die PDS die Kohlen aus dem Feuer holen? „Wenn das den Leuten nicht passen würde, hätten sie mich ja nicht gewählt“, sagt Welters. In internen Sitzungen der Landesparteispitze soll sich das anders anhören. Angeblich bezweifelt man dort, ob der Wessi, der weiterhin in Schöneberg lebt, ihr richtiger Mann ist.

Der SPD-Gegenkandidat scheint daran weniger Zweifel zu haben. Siegfried Scheffler (57), der Bisky 1998 überraschend schlug, hat nichts zu verschenken. Als sein früherer Parteifreund Josef Lange ihn um eine Unterstützerunterschrift für seine Einzelbewerbung bat, lehnte Scheffler ab. „Der würde Stimmen von mir abziehen. Und gegen Ernst Welters kommt es auf jede Stimme an.“ Unehrlichkeit wirft er Welters vor, der den Protest gegen den Flughafenausbau in Schönefeld für sich nutze. Auch er, Scheffler, lehne den Standort ab. Doch im Bundestag sei die Entscheidung gefallen. Welters mache den Wählern etwas vor, wenn er verspreche, im Parlament daran zu rütteln.

Welters’ Anti-Schönefeld-Politik zeigt Folgen. Der Chef der Bürgervereinigung Berlin-Brandenburg (BVBB), der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Ferdi Breidbach, bezeichnet ihn für Flughafengegner als den einzig wählbaren Kandidaten. Auch der Verband der Grundstücksbesitzer, der Scheffler 1998 unterstütze, lehnt den SPD-Mann dieses Mal ab und will seine Position in „zigtausend“ Schreiben an die Wähler verbreiten. Der Flughafen verursache Wertverlust, Scheffler habe sich nicht genug eingesetzt, sagt Verbandssprecher Holger Becker.

Scheffler versucht mit dem Nimbus des Siegers zu punkten und erinnert gern an seine drei Wahlsiege seit 1990. Auch in der Aula der Flatow-Oberschule, wo Schüler die Direktkandidaten zur Diskussion gebeten haben. Neben Scheffler und Welters ist das unter anderem der CDU-Landesvize und Exstadtrat Oliver Scholz. Rund 20 Prozentpunkte lag die Union 1998 hinter SPD und PDS.

Scheffler gibt vor den weit über 100 Erstwählerinnen den Stoiber, steht bei seiner Vorstellung etwas steif mit gefalteten Händen auf dem Podium. Er zitiert Prozentangaben, Zuwachsraten, Steuersätze, blickt immer wieder auf seine Notizen. Ein Schüler wird die Runde später um verständlichere Darstellung bitten. „Siegfried Scheffler ist sicher nicht der Mann der großen Reden, er ist aber bestimmt der Mann der Tat“, schreibt Parteifreund und Bezirksbürgermeister Klaus Ulbricht in der SPD-Wahlzeitung.

Welters glänzt mit griffigeren Aussagen und einem Gefühl für die Stimmung. Immer weniger Geld für die Kommunen und ihre soziale Infrastruktur? „Hier stimmt doch was nicht.“ Als es nach der Diskussion für die fünf Kandidaten Erinnerungs-T-Shirts gibt, hängt eine Frage unausgesprochen im Saal: Passt er, der Dicke, da überhaupt rein? Welters kokettiert gern mit seiner Körpermasse, die sich auf wenig mehr als 1,70 Meter verteilt. „Mehr Gewicht für Köpenick“ heißt einer seiner Slogans. Kaum hat er das Geschenk in der Hand, schon legt er die Weste ab und streift das Shirt über. Ein paar Lacher, ein bisschen Beifall. Der Grünen-Bewerber zieht nach, Scheffler bleibt im Jacket.

Populistisch sei Welters, sagt Scheffler über seinen Gegner. Unfair behandelt fühlt er sich in PDS-Publikationen. Überhaupt sei der Wahlkampf deutlich schärfer als 1998 mit Bisky. Welters sieht das anders. Populistisch? „Scheffler ist wohl von seinem persönlichen Auftreten nicht überzeugt.“

Die Selbstpräsentation ist sichtlich nicht Schefflers Welt. Die sieht anders aus, sachlicher, nüchterner. Wie ein Buchhalter führt er auf seiner Internetseite seine Wahlkreisarbeit auf: erst das Anliegen des Bürgers, dann sein hilfreiches Schreiben an das jeweilige Amt oder Unternehmen, dazu die positive Antwort.

Die Sacharbeit will Scheffler stets dem Parteipolitischen vorgezogen haben. Diesen Umstand macht er mit dafür verantwortlich, dass er als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium im November 2000 nach zwei Jahren gehen musste. Sein früherer Kollege Kurt Bodewig als neuer Minister wollte ihn nicht mehr. Das nagt hörbar noch an ihm. Umso stolzer ist er auf Kontakte, die er weiterhin hat: „Sie glauben doch nicht, dass der Welters bei Bahnchef Mehdorn einen Termin bekommen würde.“

Schefflers Politbiografie ist immer noch vergleichsweise kurz. Anders als beim gelernten Konfektmacher und späteren Transportarbeiter Welters, der sein halbes Leben in Personalräten und der Parteipolitik verbracht hat, mit 24 aus der SPD ausgeschlossen wurde und 1972 zum SED-Westableger SEW kam. Parteiloser Straßenbauer und Ingenieur war Scheffler vor der Wende, im Dezember 1989 schloss er sich den Sozialdemokraten an. Binnen zwölf Monaten wurde er Bezirksverordneter, Baustadtrat und schließlich Bundestagsabgeordneter.

Als CDU und FDP in den Umfragen noch vorne lagen, musste sich Scheffler mehrfach der Frage erwehren, ob ihn seine Parteioberen nicht drängten, den Wahlkampf zurückzuschrauben. Denn schlägt er Welters, könnte die PDS ihr überlebenswichtiges drittes Direktmandat verpassen und aus dem Bundestag fliegen. Ihre Stimmen fielen dann unter den Tisch, Stoiber wäre nach damaligem Stand auch ohne absolute Mehrheit Kanzler geworden. Scheffler hielt das für Unsinn: Die Bundesspitze der SPD stehe voll hinter ihm. Überhaupt: Warum sollte das Stoiber nutzen – „bis dahin liegen doch wir vorne“. Die jüngsten Zahlen geben ihm Recht.