Eine Sinfonie wie nie

Lawrence Renes dirigierte sein Bremer Antrittskonzert: Mit Mahlers Neunter Sinfonie hatte er sich eine große Herausforderung ausgesucht

Zum Bersten war die Spannung in der Glocke: Der als Generalmusikdirektor der Bremer Philharmoniker GmbH auf fünf Jahre verpflichtete 31-jährige Niederländer Lawrence Renes dirigierte sein Debutkonzert im Rahmen des Musikfestes Bremen.

Erstaunlich und bewundernswert, wie schwer er es sich dabei machte. Denn es gab nicht drei oder vier verschiedene Werke, sondern eines – eines der größten der Musikgeschichte: Gustav Mahlers neunte Sinfonie, sein letztes vollendetes Werk, 1908 und 1909 komponiert.

Die Bremer Philharmoniker haben durch die Arbeit von Renes Vorgänger Günter Neuhold schon hinreichend Erfahrung mit der melancholischen und visionären Klangwelt des Komponisten. Trotzdem wirkte das, was und wie es an diesem Abend passierte, als Neuland. Neuland in Klangraffinesse und Sensibilität, Neuland im sichtbaren Engagement der MusikerInnen. Neuland im Spiel an einer existentiellen Grenze, wenn auch (noch) nicht bei allen.

Mahlers eindreiviertelstündige Neunte, die er aus Aberglauben zunächst gar nicht schreiben wollte, bietet einen Kosmos der Gefühle zum Tod hin. Die unglaublichen emotionalen Wechsel, die Auflösung alter und die Entfesselung neuer Formimpulse, kostete Renes mit enormer Genauigkeit und mit klarem analytischem Verständnis aus. Da gab es an keiner Stelle sentimentalen Brei, zu dem gerade dieses Werk häufig auch verführt.

Mahlers Musik, ein einzigartiger Protest gegen die Spaltung von Kunst und Leben, erarbeitete Renes in genau diesem Sinn: „mit Wut“, „schattenhaft“, „etwas täppisch und sehr derb“, „sehr trotzig“ und am Ende „ersterbend“: Dies sind die Interpretationsanweisungen, die von Abschied und Todesahnung zeugen: „Es ist Erfahrenes und Erlittenes, was ich darin niedergelegt habe“, hatte Mahler über seine Sinfonie gesagt.

In diesem Sinne konnte sich die Interpretation von Renes und den Philharmonikern auf das Auditorium übertragen, wobei ausdrücklich die überragende Gestaltung der Rubati, die Grade der Dynamik zwischen einem absolut homogenen Pianissimo des ganzen Orchesters und ohrenbetäubender Wucht der dissonierenden Geräuschklänge genannt werden müssen.

Und weiter: die unerbittliche Intensität von Übergängen. Der so unterschiedliche „Ton“ der vier Sätze: jene unerhörte Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben (Alban Berg) im ersten Satz, der Totentanz in Form des Ländlers und des Walzers im zweiten Satz, das „Virtuosenstück der Verzweiflung“ (Theodor W. Adorno) in der Burleske und die „innige Empfindung“ (Partitur) des mit der Anweisung „adagissimo“ verebbenden Schlusses.

„Um Mahler zu verstehen“, hatte Leonard Bernstein gesagt, bedürfe es „der weltweiten Katastrophen, des demokratischen Fortschritts, verbunden mit unserer Unfähigkeit, Kriege zu verhindern, der Verherrlichung nationalen Dünkels, verbunden mit der Intensivierung unseres aktiven Widerstandes gegen soziale Gleichheit. (...) Wir erleben, dass diese Musik durch ihre prophetische Kraft einen Regen von Schönheit auf die Welt sandte, welches ihr seither nicht wieder zuteil wurde.“

Einem so jungen Mann wie Lawrence Renes, der sich nach eigener Aussage mit keinem Komponisten so viel beschäftigt hat wie mit Mahler, mag in der heutigen, politisch gegenüber 1967 so verschärften Situation dieses zu vermitteln, ein allererstes Anliegen sein.

Ovationen und Umarmung des Orchestervorstandes: Eine neue Ära hat begonnen, konnten wir nach der Pressekonferenz berichten. Wichtiger ist, dass dies nun auch künstlerisch untermauert ist.

Ute Schalz-Laurenze