Keine Wechselstimmung, nirgends

Konfusion um Wahlergebnisprognosen: Selbst das unionsnahe Allensbach-Institut verheißt dem Kandidaten Stoiber keinen Triumph mehr. Alle Umfragen signalisieren stattdessen der rot-grünen Regierung und ihrem Kanzler wachsende Popularität

von JAN FEDDERSEN

Seit 1998 zehrt die Sozialforscherin Elisabeth Noelle-Neumann von einer Prognose, die ihr und ihrem Allensbach-Institut eine gewisse Unanfechtbarkeit unter den Meinungsforschern beschert hat. Damals war ihrem Haus, das der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Zahlen und Daten zuliefert, die präziseste Vorhersage des Bundestagswahlergebnisses gelungen. Nicht dass die Sozialdemokraten vorne liegen würden, sondern dass die Union nur 36 Prozent erhalten könnte, war das entscheidende Resultat – also die Vorhersage, dass das wählende Volk wirklich keine Lust mehr an einer Unionsregentschaft hat.

Umso irritierter wurden im Kanzleramt die Allensbach-Zahlen bis zum August dieses Jahres wahrgenommen. Bis zu 8 Prozent betrug die Differenz zwischen der Union und SPD. In der Allensbach-Analyse hieß es noch vor drei Wochen, das Meinungsklima sei stabil, es werde „sich kaum noch durch eine einzelne Fernsehdebatte erschüttern lassen“ – ein für ein Meinungsforschungsunternehmen verhältnismäßig weit gehender Befund.

Was Allensbach stets – argumentativ jedoch nur zwischen den Zeilen – bloß andeutete, war, dass die Union seit Anfang des Jahres ihre guten Werte erzielt, weil sich ihre Kernanhängerschaft frühzeitig für sie entschieden hat. Die SPD dagegen war im Keller, weil deren Klientel (wie bei linken und linksliberalen seit jeher Parteien üblich) mit „ihren“ Leuten und ihren Politiken haderte. Denn auch Noelle-Neumann musste konstatieren, was Institute wie Infratest-Dimap (das der ARD zuarbeitet), die Forschungsgruppe Wahlen (beim ZDF unter Vertrag), Emnid (n-tv) und Forsa (Stern und RTL) stets hervorhoben: So mies das Publikum die Arbeit der rot-grünen Regierung auch einschätzte – eine Wechselstimmung wie 1998 hat es nie hervorgebracht.

Seit vergangenen Mittwoch nun hat auch Allensbach öffentlich einräumen müssen: Das rot-grüne wie das schwarz-gelbe Lager liegen ziemlich gleichauf. 37 Prozent, so stand es in der FAZ, würden SPD und Union jeweils erhalten. „Die Anhänger der Union“ seien „noch immer kampfbereiter als die der SPD“, hieß es dazu begütigend.

Die Forsa- und ARD-Zahlen von gestern kommen allerdings zu ganz anderen Schlüssen: Während Stoiber und die Seinen nicht nur inhaltlich Schwierigkeiten haben, sich mit dem Thema Arbeitslosigkeit zu profilieren, obendrein die Antikriegsstimmung im Lande unterschätzt haben, gelten Kanzler Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer als diejenigen, die zu wählen 1998 kein Irrtum war. In der Stimmungslage hat die SPD laut ARD die Union sogar um 10 Punkte abgehängt – was sich in der Sonntagsfrage („Wen würden Sie wählen?“) in einem Abstand von 2 bis 3 Prozentpunkten niederschlägt.

Allensbach hat mithin das Problem, den 1998 errungenen Nimbus zu verlieren – und einmal mehr als Wahlkampfdemoskopiemaschine der Union (wie seit dessen Gründung Ende der Vierzigerjahre überhaupt) dazustehen. Manfred Güllner von Forsa, Dieter Roth von der Forschungsgruppe Wahlen und Richard Hilmer von Infratest-Dimap mögen ihren Kollegen vom Bodensee keine Parteinahme vorwerfen – nur fachlich halten alle drei für fragwürdig, dass Allensbach seine Ergebnisse durch Face-to-face-Interviews herausfindet und nicht wie sie in telefonischen Umfragen. „Bei denen war das Hochwasser erst angekommen, als es bei uns schon durchgerauscht war“, erklärte Hilmer zu den unterschiedlichen Methoden der Institute.

Allensbach, das sich auf seine methodische Gründlichkeit viel zugute halten kann, gibt selbst zu, dass es den Faktor Kompetenz über-, den der Sympathie aber sträflich unterschützt habe: Stoiber wird zwar als der bessere Verwalter vermutet, Schröder hat allerdings mehr Charisma. Das aber hätte eine Demoskopie berücksichtigen müssen – der Augenschein hätte genügt: Schröder hat ja schon 1998 nicht gewonnen, weil er ein so extrafleißiger Ministerpräsident Niedersachsens gewesen war.

Schon damals galt er als Verkörperung eines modernen, mittigen Deutschland, das auf den obrigkeitsstaatlichen Appeal der Fünfziger gerne verzichten will. Noelle-Neumann hat diesen Aspekt wohl nicht sehen können – oder nicht wollen: Obwohl auch ihre Mitarbeiter Monat für Monat feststellen, dass kein Unionspolitiker ähnliche Positivwerte erhält wie Schröder oder Fischer – habituell ohnehin Antipoden zu Stoiber und Westerwelle.

An diesem Trend, so sagen alle außer Allensbach, wird sich bis zum 22. September wenig ändern. Was sie aber auch sagen, ist: Sollte die Union härtere Töne anschlagen (beispielsweise in der Ausländerfrage), zöge Stoiber nicht nur gegen den Sympathen Schröder den Kürzeren. Er verlöre auch seinen eben aufgebauten Ruf als Kandidat, der es gelernt hat, sich von seiner eisig-bayerischen Art zu distanzieren – und damit noch mehr Prozente.