„Ein radikales Ärgernis“

Interview ROBERT MISIK

taz: Nach dem 11. September 2001 wurde militanter Protest in den westlichen Hauptstädten nicht mehr als exzentrisches Freizeitvergnügen akzeptiert. Erleben wir eine Krise der Bewegung, Mrs. Wallach?

Lori Wallach: Ich würde nicht sagen, dass es eine Krise der Bewegung gibt. Diese Ereignisse haben die gesamte Welt durcheinander gewirbelt, natürlich hatte das auch auf unsere Bewegung Auswirkungen. In den USA wären massive Protestaktionen kontraproduktiv gewesen. Aber mein Eindruck ist, dass die Szenerie lebendiger ist denn je, es wird nur weniger darüber berichtet. Eines ist aber auch unübersehbar: Es gibt Kräfte, die die Ereignisse des 11. September zu nutzen versuchen, um Protest zu delegitimieren.

Die Protagonisten haben sich vor der Gewaltdebatte aber auch lange gedrückt. Schließlich war die Straßenmilitanz, zumindest bis Genua, Teil der PR-Strategie.

Die Strömung, für die ich stehe, ist für zivilen Ungehorsam, nicht für Gewalt. Aber in den USA ist das keine besonders heftige Debatte, weil es darüber kaum Differenzen gibt. Das ist eher ein europäisches Phänomen. Als ich das erste Mal in Italien bei einer Demonstration war, habe ich geglaubt, dass ich in eine bewaffnete Auseinandersetzung geraten bin. Dann hat man mir gesagt, das sei ganz normal.

Ohnehin scheint es sehr starke kulturelle Differenzen zu geben. In den USA wird aggressive politische Lobbyarbeit geleistet, wie wir sie in Europa überhaupt nicht kennen. Wie begründen sie diese Unterschiede?

Aus verschiedenen Gründen hat es in den USA in den vergangenen Jahrzehnten, eigentlich seit der Anti-Vietnam-Zeit kaum Massenproteste gegeben. Die Arbeiterbewegung wurde auf unglaubliche Weise unterminiert. In Europa gibt es noch intakte Insitutionen der organisierten Arbeiterbewegung, das ist eine Kraft, mit der immer gerechnet werden muss. In den USA sind gerade 14 Prozent der Beschäftigten organisiert. Deswegen spielen die Gewerkschaften leider nicht die Rolle, die sie in Europa zum Teil noch spielen. Deshalb ist Protest auch nur in sehr zurückhaltenden Formen gesellschaftlich akzeptiert.

Ihr Protest ist nicht gerade zurückhaltend.

Ich bin sicher nicht typisch für die amerikanische Szene: Ich werde als ziemlich radikales Ärgernis angesehen. Der durchschnittliche amerikanische Aktivist ist ein moderater Dampfplauderer. Meine Arbeit sieht dagegen so aus: Ich gehe zu einem Kongressabgeordneten und fordere ihn auf, eine bestimmte Position einzunehmen. Wenn er das nicht tun, wird er gefoltert bis zu den Tag, an dem er es tut. Ich sorge dafür, dass er nicht wiedergewählt wird. Die Idee von „Public Citizen“, der NGO, der ich angehöre, ist, dass jeder in die Lage versetzt werden soll, seine Bürgerrechte wahrzunehmen. Wenn jemand im Kongress die Interessen seiner Wähler nicht vertritt, dann sorgen wir dafür, dass das in seinem Wahlbezirk bekannt wird. Das ist die Art, wie wir arbeiten, aber typisch ist das für die verschiedenen Zivilgesellschafts-Organisationen der USA keineswegs.

Kritiker sagen, Leute wie Sie werfen die richtigen Fragen auf, geben aber die falschen Antworten. Protektionismus ist doch kein Mittel gegen die Ungerechtigkeiten auf der Welt.

Wir sind keine Protektionisten. Aber wir sagen nicht: Der Markt über alles. Der Markt ist ein Instrument, der Handel ist ein Instrument, aber kein Wert. Das Ziel muß sein, die Umwelt zu sanieren, den Lebensstandard zu heben, die demokratischen Prinzipien zu wahren. Wir sind nicht gegen Handel, aber wir sind für neue Regeln. Und wir meinen auch, dass der Markt Grenzen braucht. Nicht alles kann zur Ware gemacht werden. Wichtige öffentliche Dienstleistungen sollen nicht zu Handelsgütern gemacht werden. Und Regierungen müssen verpflichtet bleiben, sie zur Verfügung zu stellen. Zum Beispiel Grundschulausbildung.

Früher war auch das Telefonsystem eine öffentliche Dienstleistung. Die Liberalisierung der Telekom-Systeme hat aber doch allen genützt. Was ist so schlecht an Konkurrenz durch Private?

Wenn das ein Land für sich entscheidet, auf demokratische Weise, ist nichts daran schlecht. Aber wenn das eine Institution wie die WTO, die niemandem verantwortlich ist, 186 Ländern der Welt aufoktroyiert, dann sieht das schon anders aus. Welche Auswirkungen so etwas hat, hängt davon ab, ob es Marktregulierung in den betroffenen Ländern gibt. In der entwickelten Welt gibt es das, da kann man öffentliche Interessen sicherstellen, auch, dass keine Monopole entstehen. In der Ukraine sieht das schon anders aus, ganz zu schweigen von Burkina Faso. Grundsätzlich kann man so formulieren: Ist Handel mit solchen Gütern möglich? Ja. Brauchen wir dafür strenge Regeln? Ebensfalls Ja. Braucht es nicht verschiedene Regeln für verschiedene Fälle? Nochmals ja. Wenn man sich aber die WTO-Prinzipien ansieht, dann ist das oberste und alleinige Prinzip das des unbeschränkten Marktzuganges. Und noch etwas: Kulturen unterscheiden sich, warum auch immer. Für Amerikaner ist es unvorstellbar, dass das Grundwasser nicht der Allgemeinheit gehört, sondern Privatbesitz sein soll. Fragen Sie mich nicht, warum die Amerikaner so empfinden. Es ist nun einmal so. Die Briten finden daran vielleicht nichts Anstößiges. Warum müssen Amerikaner und Briten dann die gleichen Marktregeln in dieser Sache haben?

Seit dem Aufruhr in Seattle, den Sie mit einer logistischen Großleistung organisierten, sind Sie für die globalisierungskritische Szene ein Star. Wie lebt es sich mit einem solchen Image?

Ich kam in diese Rolle, weil ich eine der wenigen Wirtschaftsanwälte innerhalb der Bewegung bin und weil ich fließend die Spache der Gatt- und WTO-Welt spreche. Ich habe Fertigkeiten, die nützlich sind. Aber ich bin kein Star.

Immerhin hat der „Spiegel“ Sie zur „Symbolfigur“ der Bewegung ernannt. Auch weil Sie als Wirtschaftsjuristin mit Harvard-Abschluss andere Möglichkeiten hätten: Beispielsweise ganz viel Geld zu verdienen. Warum haben sie sich für ein Rebellenleben entschieden?

Ich kann eigentlich nicht verstehen, wie sich jemand nicht dafür engagieren kann, dass die Welt sich zum Besseren ändert.