Zum Bleiben fehlte der Mut

Billstedt feiert in dieser Woche seinen 75. Geburtstag. Der Stadtteil ist kein „Ghetto der Hoffnungslosigkeit“. Aber kann er ein Ort sein, um Wurzeln zu schlagen und Kinder großzuziehen? Eine junge Mutter hat es zwei Jahre lang versucht: Ein ganz subjektiver Erfahrungsbericht

Die negativen Schlagzeilen in den Medien über Billstedt taten uns weh

von RENATE KIESSELBACH

Wie hatte ich die Nase gerümpft über meine Nachbarinnen in Eilbek, die bei ihrer Suche nach einem Haus mit Garten nach „guten“ und „schlechten“ Stadtteilen unterschieden. Auch wir suchten, als unser zweites Kind unterwegs war, nach einer größeren Bleibe, am besten mit einem Stückchen Grün dabei. Wir fanden nach wenigen Monaten unser Traumhaus – vier Zimmer mit Garten – und schreckten auch nicht davor zurück, dass es in Billstedt lag.

Ein Stadtteil, der auch „schöne Ecken“ hatte, wie wir fanden, mit Grünzonen und reizvollen alten Häusern. So groß ist der Unterschied zu Altona nicht, dachte ich bei meinem ersten Spaziergang durch die Kapellenstraße, als ich an den türkischen Läden vorbei ging. Vielleicht wird Bill- stedt ja sogar noch mal Kult.

Als Mutter mit Kleinkind war ich in Eilbek gut integriert. Ich besuchte regelmäßig zwei Nachbarinnen mit Kindern und eine Mutter-Kind-Gruppe bei der Kirche. Und wann immer ich wollte, konnte ich zum Spielplatz an der Von-Essen-Straße gehen und fand dort Kontakt zu anderen Müttern und Kindern. Solch eine soziale Infrastruktur, dachte ich, ließe sich mit ein wenig Mühe auch in Billstedt finden. Besser noch – als Besitzerin eines Gartens kämen bestimmt andere Mütter mit Kindern gern zu mir.

Fehlanzeige. Das Schlimmste in den zwei Jahren, in denen ich in diesem so genannten Problemstadtteil wohnte, war die Einsamkeit. Das Fehlen einer sozialen Infrastruktur, das Fehlen geeigneter Spazierwege für Kinder. Nicht, dass es keine Kinder gab. Allein in unserem Straßendreieck lebten bestimmt 50. Aber sie lebten anders. In hundert Meter Entfernung befanden sich zwei Spielplätze, voneinander getrennt durch einen zwei Meter hohen Zaun. Der eine bildete den Hof einer Neubauwohnanlage, die Eltern ließen ihre Kinder allein dort spielen und konnten sie von oben aus den Fenstern beobachten. Der zweite bildete den Endpunkt eines kleinen Grünstreifens, der den Bewohnern einer sehr eng gebauten Reihenhausanlage als Auslauf diente. Quengelte mein Sohn mich dort hin, blickten die Bewohnerinnen mich an, als ginge ich durch ihren Garten – was ja auch stimmte.

Der nächste öffentliche Spielplatz war fast immer verwaist. Mütter, das fand ich bald heraus, setzten sich hier nicht wie in Eilbek auf die Bank, um ihre Kinder beim Spielen zu betreuen. Kleinere Kinder, wenn überhaupt, hielten sich mit ihren größeren Geschwistern dort auf. Wollte mein Sohn mitspielen, müsste er sich allein behaupten und an ihre Regeln halten. Aber dafür war er noch zu klein.

Also musste ich eine Gruppe finden. Ich marschierte zur örtlichen Bücherhalle und schaute auf das schwarze Brett. Und siehe da – im benachbarten Kirchsteinbek gab es eine Eltern-Kind-Gruppe, die per Anschlag um neue Mitglieder warb. Mein erster Besuch fiel in die Sommerpause. Ich traf nur einen Vater dort an, der mich fragte, wieso ich ausgerechnet nach Billstedt gezogen sei. Auch bei den nächsten Treffen hatte die Gruppe – die das Bewusstsein einte, irgendwie anders als die übrige Bevölkerung im Viertel zu sein – hauptsächlich ein Thema: Wie kam man hier wieder weg!

Das Mittelschichtgrüpplein hatte noch einen weiteren Haken. Nur weil Frauen Abitur haben, müssen sie noch nicht gleich ähnliche Ansichten über Erziehung und Haushalt haben. Private Besuche über die wöchentlichen Treffs hinaus blieben spärlich. Ich sehnte mich nach Kontakt und mein Sohn nach Spielpartnern.

Eines Tages erblickte ich die Lösung vis-á-vis. Im Wohnhaus gegenüber saß ein Junge mit Schnuller am Fenster und beobachtete wie mein Sohn die Männer der Müllabfuhr. Ich passte die Mutter auf der Strasse ab. Das Kind hies Patrik und war exakt gleich alt. Genial, dachte ich. Ich lud Mutter und Sohn zum Kaffee ein. Sechs Wochen später kam eine Gegeneinladung. Dann gar nichts mehr. Die Frau, die als Packerin beim Otto-Versand arbeitet, legte auf weiteren Umgang keinen Wert. Billstedt, das wurde mir klar, hatte nicht auf mich gewartet. Ich hatte nichts gegen diesen Stadtteil, aber der Stadtteil hatte auch nichts für mich. Dabei wollte ich ihn doch verteidigen.

Kurz darauf geriet Billstedt ins Blickfeld der Medien. „Ghetto der Hoffnungslosigkeit“ titelte eine Hamburger Lokalzeitung. Der Autor war gewiss für eine Stunde am Ort gewesen, hatte den verbliebenen Einzelhändlern des verwaisten Einkaufszentrums an der Merkenstraße gesprochen und mit seinem Bericht Gutes bewirken wollen. Aber uns tat diese Berichterstattung weh. Sie habe, berichtete mir eine Bekannte, die im benachbarten Mümmelmannberg aufgewachsen war, gar nicht am Leben im Stadtteil an sich gelitten. Schlimm sei nur der schlechte Ruf gewesen. Ähnlich erging es mir. Frühere Freunde machten zwar anstandshalber einen Antrittbesuch in unserem Garten, hielten sich dann aber vornehm zurück. Aber Billstedt war kein „Ghetto der Hoffnungslosigkeit“. Viele unserer Nachbarn lebten gern dort.

Wir wohnten in einer deutschen Zeile. „Wie schön, dass Sie kein Kopftuch tragen“, begrüßte mich eine ältere Nachbarin. Wenige Tage vorher hatte mich eine schwangere Albanerin auf dem Spielplatz gefragt, wieso ich erst mein zweites Kind bekäme - sie sei erst 25 und habe schon vier. Deutsche und Migranten leben miteinander und stellen sich gegenseitig in Frage. Ich hörte weder das mit dem Kopftuch gern, noch das mit den vier Kindern.

Vor uns hatte in unserem Haus eine türkische Familie gelebt, die den örtlichen Gemüseladen betrieb und sich ein größeres Haus in einem Vorort gekauft hatte. Da nur die eingedeutschte Version ihres Namens an der Türklingel stand, vermuteten wir, dass der Wegzug nicht freiwillig war. Wann immer ich bei der Frau an der Kasse mein Gemüse bezahlte, fragte sie nach dem Haus. Sie fand den Vorort öde und sehnte sich zurück.

Als mein Sohn in den Kindergarten kam, lernten wir mehr Migrantenfamilien kennen. Die Kinder waren oft die best angezogensten, die Eltern hatten qualifizierte Jobs. Als sich herausstellte, dass eine kleine Deutsch-Türkin aus dem Kindergarten in dem Reihenhaus wohnte, das direkt an unser Grundstück grenzte, bauten wir eine Tür in den Zaun. Unser Garten zog die Jugend der Nachbarschaft magnetisch an. Nun hatten meine inzwischen zwei Kinder Spielkameraden, wann immer sie wollten. Wenn diese auch im Schnitt doppelt so alt waren. Und ich hatte nahezu den Job einer Sozialarbeiterin: Weil ich mich für meine Kinder zuständig fühlte, war ich es automatisch auch für die anderen.

Die Tür im Zaun nutzten meine Kinder selbstverständlich auch für Ausflüge in die Reihenhauszone, und da sie noch so klein waren, musste ich notgedrungen mit. Ich freundete mich sogar ein wenig mit der Großmutter der Roma-Kinder an, die ich heimlich „Clanchefin“ nannte. Eines Tages warnte mich ein pensionierter Werftarbeiter, der im letzten Reihenhaus wohnte und allein seinen Enkel aufzog: „Ich würde meine Kinder nicht mit denen spielen lassen. Das ist alles Pack.“ Dabei zeigte er auf die Töchter seines türkischen Nachbarn. Der war ein qualifizierter Behördenanstellter und las die Süddeutsche. Ich glaube, der Rentner wollte, dass meine Kinder mit seinem Enkel spielen.

Wenige Wochen später verkauften wir unser Haus an ein kinderloses Ehepaar. Es war schade um die Freundschaften, die wir schließlich doch geschlossen hatten. Aber zum Bleiben fehlte der Mut.