berliner szenen Wie man jetzt tanzt

Melancholieflash

Auch 2002 nervt das Eighties-Revival wie chronischer Husten. Noch immer malen sich Sängerinnen komische Indianerstriche ins Gesicht. Erst jetzt werden die Retrosounds von Tiga & Zyntherius, Miss Kittin und Fischerspooner zu einem Pop-Hype zusammengefasst, der mal den Namen „Nu Wave“ trägt, mal „Electroclash“ genannt wird.

Wie man zum Neo-Electro tanzt, das zeigte im Roten Salon neulich: ER. Die Füße stehen etwa einen Meter voneinander entfernt. Zum Becken hin laufen die feinen Beine. Jede Bewegung wird ausgelöst vom lose schwingenden Körperzentrum, bereits Elvis’ größtes Argument. Doch der Nu-Wave-Tänzer ist kein Rock ’n’ Roller. Unter dem weißen Marken-Unterhemd zeichnet sich eine schlanke Brust ab, deren Muskeln dennoch wohl definiert sind. Gleiches gilt für den Bizeps an den Armen, der sich ab und an zu zeigenden Gesten formt. Der Nu-Wave-Tänzer beherrscht die Kunst der Andeutung, er abstrahiert die Bewegungen solange, bis sie ganz und gar Stil sind.

So weit, so Eighties. Der Unterschied zu damals liegt im Blick des Nu-Wave-Tänzers. Man kennt die Art zu schauen von Electroclash-Star Tiga: Der Blick geht ins Nirgendwo. Und dort findet er: sich selbst. In den Achtzigern aber, Videoclips her zum Beweis!, in den Achtzigern ging der Blick direkt zum Gegenüber. Denn die damalige Intention lautete „Ich-Abgrenzung durch Abweisung“. Nu Wave, der neueste Wille zur Coolness, braucht eine derartige Intention überhaupt nicht mehr. Das Individuum ist jetzt voll durchindividualisiert. Ja, Nu-Wave-Tänzer und Tiga wirken sogar, als seien sie gegen ihren Willen von der Welt separiert. Vielleicht wirken sie deshalb ja wie die ichgewordene Melancholie.

CHRISTOPH BRAUN