„Kein Kreuz? Das geht nicht!“

Auch Menschen mit geistiger Behinderung haben am Sonntag Wahlrecht. Im Seminar „Mittendrin!“ lernen sie, wie man seine Stimme abgibt – und dass nicht die Mutter entscheidet, für welche Partei

von TINA SPIES

„Was ist ein Bundeskanzler?“ Die Frage ist auf einem gelben Zettel an die Wand gepinnt. Daneben lächeln Gerhard Schröder (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) um die Wette. Schon beim Betreten des Raumes im Allermöher Kinder- und Familienhilfezentrum (Kifaz) wird klar, um welches Thema es geht. Und doch ist das Seminar „Mittendrin!“ anders als all die anderen, überaus zahlreichen Veranstaltungen vor der Bundestagswahl am 22. September. Denn das Programm richtet sich an WählerInnen mit und ohne Behinderung, „die gut Bescheid wissen wollen“.

„Geistig Behinderte wissen oft sehr wenig zum Thema Wahlen. Nicht etwa, weil sie nicht intelligent genug wären, das alles zu verstehen, sondern weil die Informationen einfach zu theoretisch sind“, erklärt Ansgar Melter. Er leitet an diesem Nachmittag zusammen mit Tobias Knaack den letzten Termin des dreiteiligen „Mittendrin!“-Seminars.

Im ersten Teil ging es bereits um den Berliner Bundestag: Es wurde unter anderem erklärt, was das Gremium macht und wer da sitzt. Beim zweiten Termin wurden die einzelnen Parteien vorgestellt und Fragen besprochen wie „Was will die Partei?“ und „Welche Partei tut am meisten für behinderte Menschen?“. „Wir wollen natürlich niemanden in seiner Wahl beeinflussen“, so Ansgar Melter, „wir finden es wichtig, dass auch behinderte Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen“.

Beim letzten Teil der Veranstaltung wird nun geübt, wie der Gang ins Wahllokal abläuft. Hierzu erhält jedeR der elf TeilnehmerInnen zunächst eine „Wahlbenachrichtigung“. Dann wird besprochen, wer überhaupt wählen darf, und wann die Bundestagswahl stattfindet. Die Fragen werden offen formuliert und von den TeilnehmerInnen mit reger Beteiligung beantwortet.

Uneinigkeit herrscht darüber, wer eigentlich entscheidet, was man wählt: „Meine Mutter“, tippt ein Teilnehmer, „meine Schwester“, eine andere. Viele wissen auch nicht, dass sie zur Wahl jemanden mitbringen dürfen, der beim Lesen des Wahlzettels hilft. Doch als Tobias aus Spaß meint, er mache gar kein Kreuz, weil er keinen auf der Liste möge, sind sich alle einig: „Das geht nicht!“

Am Ende wird die Wahl „live“ geübt. Yvonne sitzt am Eingang und nimmt die „Wahlbenachrichtigung“ zusammen mit dem jeweiligen Personalausweis entgegen. Dafür gibt sie den „Stimmzettel“ aus. Nacheinander gehen dann alle in die „Wahlkabine“, füllen den Zettel aus und werfen ihn in die „Urne“. „Das war ja gar nicht schwer“, findet Kerstin, die zuvor noch nie wählen war. Nach der Pause steht das Ergebnis fest: 44 Prozent der Zweitstimmen für die SPD, 31 Prozent für die Grünen, knapp 13 Prozent für die CDU und sechs Prozent für die FDP. Nur ein Wahlzettel konnte nicht gezählt werden, weil beide Kreuze in der gleichen Spalte gemacht wurden.

An diesem Sonnabend wollen sich alle noch einmal treffen, um in der Bergedorfer Innenstadt die Wahlstände zu besuchen und den dortigen Politikern Fragen zu stellen. Vor allem interessiert sie, warum behinderte Menschen in den Werkstätten so schlecht bezahlt werden. Sie wollen mehr Geld für ihre Arbeit, um endlich nicht mehr von Sozialhilfe leben zu müssen. Elke, die im Rollstuhl sitzt, will außerdem wissen, welche Partei sich um Rampen vor öffentlichen Gebäuden kümmert. Und alle interessiert, welche Partei für weniger Arbeitslose sorgt, wer gegen Krieg ist und welche Partei zukünftige Umweltkatastrophen verhindert.

Am Ende sind Tobias Knaack und Ansgar Melter zufrieden mit ihrer Arbeit. Sie hoffen, dass nun einige am 22. September wirklich wählen gehen. „Doch das hängt natürlich auch von den Betreuern ab“, weiß Knaack. Die Erfahrung hat gezeigt, dass behinderte Menschen sich im Anschluss an das Seminar oft mehr für Politik interessieren und auch von sich aus mehr politische Informationen fordern. Vor allem aber stärke es das Selbstbewusstsein, wenn sie sagen könnten: Ich gehe auch wählen.