Klangfarbliche Feinheiten

Musikalisch außerordentlich gut gelungen, in der Inszenierung hier und da fragwürdig: Luciano Berios „La vera storia“ in deutscher Erstaufführung an der Hamburgischen Staatsoper

von REINALD HANKE

Der Titel La vera storia bedeutet im Deutschen „Die wahre Geschichte“. Genau die gibt es aber gar nicht in Luciano Berios 1982 uraufgeführter und nun in Hamburg erstmals nachgespielter Oper. Der Titel benennt nichts auf der Bühne zu Erlebende, sondern verweist vielmehr fragend auf das, was an Wahrem hinter dem Bühnengeschehen stehen könnte. Berios Oper erzählt keine Geschichte, schildert – im ersten Teil – musterhaft menschliche Grundkonflikte. Und das konsequent mit den traditionellen Mitteln des Theaters und der Oper. Die dargestellten Konflikte sind diejenigen der Figuren aus Verdis Troubadour, beherrscht wird die Bühne von permanenter szenischer Aktion.

Im zweiten Teil hat Berio noch einmal die gleichen Texte vertont, dieses Mal jedoch ganz anders zusammengeschnitten. Auch die Art der Vertonung ist nun eine ganz andere: Die Musik erweckt den Eindruck, sie kreise reflektierend über dem bereits Gehörten. Alles Theatralische ist abgestreift, die Musik scheint zu ihrem Wesen zurückgekehrt und befreit von jeglichem äußeren, formalen Zwang. Alles wächst geradezu organisch aus dem zuvor Erklungenen heraus. Es entwickelt sich eine Art vielfältig untergliederter, unendlicher Melodie. Die Harmonik dieses Teiles klingt dermaßen in sich geschlossen, als bringe sich jede Fortschreitung nach dem Selbstähnlichkeitsprinzip der Chaostheorie selbst hervor. So kommt die enorm klangsinnliche Musik zur Ruhe und kann dem Zuhörer eine tiefe Ausgeglichenheit vermitteln.

Um diese Wirkung zu erreichen, müssen freilich so erstklassige Musiker wie jetzt in Hamburg am Werk sein. Ingo Metzmacher hatte ein vorzügliches und sehr ausgeglichenes Ensemble zusammengestellt: So gut wie im zweiten Teil des Abends hört man das Hamburger Orchester und den Chor selten. Das hatte internationales Spitzenformat. Metzmacher erwies sich als höchst sensitiver Musiker, der es meisterhaft versteht, klangfarbliche Feinheiten der Partitur hörbar zu machen, ohne dabei das Ganze aus dem Auge zu verlieren. Und er hatte die gestalterische Kraft und Ruhe, den großen Schlussgesang der Ada in aller Konzentriertheit und im richtigen Verhältnis von Spannung und Gelöstheit auszumusizieren.

Mit Yvonne Naef als Ada stand ihm eine ebenbürtige Partnerin zur Seite: Naef verfügt nicht nur über eine perfekt sitzende Stimme, sondern auch über eine bemerkenswerte musikalische Intelligenz und technische Souveränität, die es ihr ermöglicht, in die tiefsten Ausdrucksregionen ihrer Rolle vorzudringen. Solch berührenden Gesang erlebt man nicht häufig, in moderneren Werken so gut wie nie. Da konnte auch die berühmtere und immer noch enorm ausstrahlungsstarke Milva nicht ganz mithalten.

Noch viel weniger die anfangs aktionistische, später konsequent-konzentrierte Inszenierung von Henning Brockhaus, einziger Schwachpunkt dieser Aufführung. Zum einen lag dies am Bühnenbildkonzept Ezio Toffoluttis, das sich im Nachgestalten von Berios Angaben erschöpfte. Dies hat Toffolutti zwar mit viel Geschmacks- und Stilsicherheit erledigt, aber letztlich wirkt es doch etwas dürftig, wenn ein Bühnenbildner einfach den im Libretto beschriebenen Marktplatz grau in grau nachbaut, sei dieser atmosphärisch noch so stark. Zusätzlich beging Toffolutti den Fehler, die Wahrhaftigkeit dieses Schauplatzes aufbrechen zu wollen, indem er diesen immer wieder dezidiert als Kulisse behandelte. Der erzielte Verfremdungseffekt allerdings brachte der Aufführung überhaupt nichts.

Immerhin hatte Regisseur Brockhaus so beste Möglichkeiten, seine Sängerdarsteller zu einem – im brechtschen Sinne – zeigenden Spiel anzuhalten. Das jedoch wirkte plump aktionistisch. Wie gut, dass die Personenführung im zweiten Teil wesentlich zwingender geriet und die musikalische Seite überaus gut gelungen war.

weitere Aufführungen: morgen, 21. + 25. September, 2., 5. + 9. Oktober, jeweils 19.30 Uhr, Staatsoper