Müll und Angst

Gefangen im Leben: Erik Uddenbergs Problemstück „Polter, Geist und Ti“ im Jugendtheater carrousel

Normalerweise freuen sich kleine Mädchen auf den ersten Schultag in ihrem Leben. Ti nicht. Die Achtjährige würde gerne endlich die Schulbank drücken, schämt sich aber, weil sie stinkt. Außerdem kann Ti gar nicht zur Schule gehen, weil Mama sie nicht aus dem Haus lässt. Denn die hat ganz andere Sorgen. Und Ängste.

„Polter, Geist und Ti“ von Erik Uddenberg ist ein Stück des Kinder- und Jugendtheaters carrousel für Kinder ab 10 Jahren. Intendant Manuel Schöbel hat die schwedische Vorlage gefühlsbetont in Szene gesetzt: Erzählt wird von den krankhaften Auswüchsen im Seelenleben einer allein erziehenden Mutter. Trauriger Hintergrund sind erschreckende, aber kaum thematisierte Zahlen: In Deutschland werden jährlich 1,6 Millionen psychisch kranke Menschen behandelt. Man schätzt, dass rund eine halbe Million Kinder mit einem psychotischen Elternteil leben. Die Psychose von Frau Mama lässt sich schon zu Beginn dank des stimmigen Bühnenbildes (Anja Furthmann) erahnen. Hunderte nummerierte Kisten bilden die Wände und assoziieren eine Wohnung voller Gerümpel. Denn die Mutter stapelt Müll, kann sich von nichts trennen. Und braucht Ti, die beim Archivieren helfen muss. Jedes noch so unnütze Ding bekommt einen Zettel, Cola-Dose leer, Kofferradio ohne Schnur, Teedose ohne Deckel – der 989.

„Ich bin gefangen“, ruft die Mutter (Kristine Keil). Sie hat „zwei Gefängniswärter“, die Herr Polter und Herr Geist heißen und früher eine Person waren. Heute halten sie das Zepter in der Hand. Und das Gefängnis heißt Seele, denn nur dort existieren sie. Ti (Johanna-Julia Spitzer) kann sie nicht sehen und hören, kennt sie aber ganz genau. Denn wegen der Herren Polter/Geist musste sie ihr Zimmer räumen, dort stapelt sich jetzt Müll. Auch das Klo ist von den „Schätzen“ der Mutter belegt. Ti muss deshalb in Gurkengläser pinkeln. Das kleine Mädchen versucht alles, um im Chaos ein normales Leben zu führen. Wer nicht pariert, den bringt das Jugendamt ins Heim, ein Anruf genügt. Die Seelenqualen der Achtjährigen lassen sich erahnen. Der kranken Mutter ausgeliefert, rettet sie sich träumend zum Vater, der schon vor Jahren ging. Auch hat sie Angst, genau so wie Mama zu enden.

Wer ist krank? Und wer gesund? Macke oder Psychose? Das Stück, das Zehnjährige trotz vieler dramaturgischer geglückter Einfälle und erstklassiger Schauspielleistungen schlicht überfordern dürfte, wirft viele Fragen auf, ohne sie beantworten zu können. Deshalb gibt es Begleitmaterial und die Adressen von Hilfsangeboten. Hilfe jedoch lässt im Stück auf sich warten. Also leiden beide bis zum Schluss: Der Schlüsselnotdienst steht vor der Tür, weil Ti seit Tagen in der Schule fehlt. Auch beschwerten sich die Nachbarn, sagt der Mann mit Mundschutz. Beide sollen ausziehen.

Aber wohin?, fragt die völlig verwirrte Mutter. Ti antwortet anders als erwartet: „Eigentlich hast du nur Angst vor zu vielen Dingen im Leben.“ Denn das kann man nicht in Kartons wegpacken. ANDREAS HERGETH

17. 9.–19. 9, jeweils 10 Uhr, am 18. 9. auch 18 Uhr, carrousel Theater, Parkaue 29