■ Ein Widerspruch provozierendes Interview
: Historische Schnitzer

betr.: „Muslime sind nicht integrierbar“ (Hans-Ulrich Wehler), taz vom 10. 9. 02

Wehlers Erklärung des Attentats auf das World Trade Center verweist auf die „Militanz“ der islamischen Religion, die „ihre Herkunft aus der Welt kriegerischer arabischer Nomadenstämme nicht verleugnen kann“ – eine Aussage, die in doppelter Hinsicht infam ist: zum einen, weil hier rassistische Klischees wie die arabischen „Kameltreiber“ und die Europa bedrohenden islamischen „Fluten“ anklingen; zum anderen, weil hier in essenzialistischer Manier ein unveränderliches islamisches Wesen konstruiert wird, das sich angeblich durch seinen Hang zu Krieg und Gewalt auszeichnet. Sollte Wehler noch nie davon gehört haben, dass dank der religiösen Duldsamkeit der Muslime im islamischen Spanien auch Christen und Juden lebten? Dass der Islam in seiner tausendjährigen Geschichte nicht nur kriegerisch expandierte, sondern auch friedlich (wie in Schwarzafrika und in Indonesien)? Und dass während des dunklen europäischen Mittelalters in der islamischen Welt eine Hochkultur blühte, in der das Erbe der Antike fortwirkte und die das mittelalterliche Europa nachhaltig prägte?

[…] Im weiteren Gesprächsverlauf nimmt Wehler zum deutschen „Ausländerproblem“ Stellung, aus seiner Sicht ein „Türkenproblem“, weil „die Türken“ als Muslime „im Prinzip nicht integrierbar“ seien und sich zudem als unfähig erwiesen hätten, eine eigene Elite hervorzubringen. Der Historiker plädiert deswegen für eine restriktive Einwanderungspolitik, die auf den Zuzug vor allem von Osteuropäern setzt, die wie die Deutschen dem „christlichen Abendland“ angehören. Man muss kein „Multikulti-Gutmensch“ sein, wenn man diesen Standpunkt nicht teilt, denn auch er beruht nicht nur auf einem impliziten Rassismus, sondern auch auf groben Verallgemeinerungen und einer unzulässigen Verkürzung der historischen Perspektive: Wehler spricht von den Türken und verkennt die vielen Unterschiede und Verwerfungen innerhalb der deutschtürkischen Community: Türken und Kurden, Sunniten und Alawiten, Islamisten, islamische Traditionalisten und Modernisten … Wehler übersieht zudem, dass sich in Deutschland sehr wohl mittlerweile eine türkische Elite ausgebildet hat, zu der Geschäftstreibende und Unternehmer, Gymnasiasten und Studenten zählen. Als Historiker hätte Wehler außerdem die orientalischen Wurzeln des „christlichen Abendlands“ in Betracht ziehen müssen: Die Lautschrift, die alle Europäer benutzen, stammt aus Phönizien, dem heutigen Libanon, und das Christentum selbst ist wie das Judentum, aus dem es hervorging, eine nahöstliche Religion. Und ist der Islam wirklich kein Bestandteil europäischer Identität? […]

Erschreckend sind die Konsequenzen, die sich hier abzeichnen: Eine Gesellschaft, deren Homogenität und Sicherheit „nicht integrierbare“ Einwanderer bedrohen, bedarf Maßnahmen der „Säuberung“. Wehler spricht von der „Notwendigkeit einer strikten Steuerung“. Er öffnet damit der Logik eines ausgrenzenden und rassistischen Nationalismus Tor und Tür, dessen Folgen bekannt sind: Pogrome, Lynchjustiz und brennende Wohnungen von Türken, Arabern und anderen „nicht integrierbaren“ Einwanderern. Zu den Grundregeln historischer Forschung gehört das ausgewogene, um Nuancen bemühte Urteil, das voreilige Verallgemeinerungen zu vermeiden sucht, gehört die Treue zu den historischen Fakten. Wehler hat im taz-Gespräch in fahrlässiger Weise gegen diese Regeln verstoßen. GUNTHER VERHEYEN, Horb/ Neckar

Völlig unverständlich ist, wie ein Historiker gänzlich unsensibel jenem fremdenfeindlichen Stereotyp vom „guten Ausländer“, den man persönlich kennt, von dem man aber nicht auf die Gruppe als Ganzes schließen dürfe, verfallen kann. Das erinnert, wenn nicht an Schlimmeres, so doch an den senilen Methusalix aus dem Gallischen Dorf, wenn er sagt, „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier.“ TOM KRONENBERG, Gießen

Wenn Wehlers Auslassungen das Niveau der Auseinandersetzung deutscher HistorikerInnen mit dem 11. September widerspiegeln, bin ich allerdings mehr als froh, an einer US-Universität arbeiten zu können.

Seine Äußerungen sind von Sachkenntnis kaum getrübt. So sind Statistiken über Religionszugehörigkeit notorisch unzuverlässig, alle mir bekannten Erhebungen gehen aber von etwa doppelt so vielen Christen wie Muslimen aus. Und der rasante Mitgliederzuwachs protestantischer Sekten gerade auf dem amerikanischen Kontinent lässt mir Wehlers Behauptung, einzig der Islam expandiere noch, doch mehr als zweifelhaft erscheinen. Den „militanten Monotheismus“ des Islam pseudo-ethnisch mit seiner Entstehung unter kriegerischen Nomaden zu begründen, ist ebenfalls unhaltbar. Die rasche Ausbreitung der Religion im 7. Jahrhundert ist nicht nur den kriegerischen Fähigkeiten der Araber zu verdanken, sondern auch der Praxis, Anhängern anderer monotheistischer Religionen weitgehende Glaubensfreiheit zuzugestehen und ihnen so die Vorteile einer islamischen gegenüber einer christlichen Herrschaft drastisch vor Augen zu führen.

Dass der Islam heute viel zu oft als intolerante Religion praktiziert wird, steht außer Frage, es macht jedoch mehr Sinn, die Gründe in der jüngeren Vergangenheit zu suchen, als eine ethnisch-historische Zwangsläufigkeit zu konstruieren. Gerade die ungleich blutigere und intolerantere Vergangenheit des Christentums sollte davor warnen, Religionen grundsätzlich die Entwicklungsfähigkeit abzusprechen. […] Erschreckender als alle historischen Schnitzer ist aber die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit jegliche Individualität abgesprochen wird und sie zum Teil einer undifferenzierbaren, dumpfen, gefährlichen, proto-faschistischen und im Namen der Freiheit auszugrenzenden Masse gemacht werden. Um so erschreckender, da diese Haltung immer salonfähiger zu werden scheint. FATIMA EL-TAYEB, Knoxville/Tennessee, USA

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