Eine vorgezogene Siegesfeier

Fischer und Schröder, die Popstars der Regierung, feiern mit ihren Fans am Brandenburger Tor. Eine Woche vor der Wahl herrscht eine besoffen-glückliche Atmosphäre, als wäre Stoiber schon besiegt. BAP erklärt Arbeitslosigkeit zur Nebensache

aus Berlin CHRISTIAN FÜLLER

Der Mann kann vielleicht nerven. Viermal hat Joschka Fischer der Menge abverlangt, sie solle sich noch mal richtig reinhängen. Viermal! Reinhängen. Hängt euch rein. Noch mal reinhängen. Hängen wir uns rein. Da stöhnen sogar die enthusiastischsten Anhänger des Außenministers hörbar auf. Eine Woge des Aufbegehrens brandet nach vorne Richtung Tor, wo in mannshohen rot-grünen Lettern „Go on“ steht. Go on, Rot-Grün, ist damit gemeint.

Exakt eine Woche vor der Bundestagswahl sind die Fans von Rot-Grün vors Brandenburger Tor gezogen. Ihr Idol ist da, der Außenminister Joseph Fischer. Kanzler Gerhard Schröder ist da. Und die Kölner Rockgruppe BAP. 20.000 Polit-Groupies wollen Joschka als Popstar bejubeln – und der kräht ausgerechnet nach Sekundärtugenden: Disziplin, Kampfesmut, Durchhaltewillen. Damit der hauchdünne Vorsprung noch weitere sieben Tage hält, den die Regierung in den Umfragen errungen hat.

„Wir dürfen nicht vor dem Wahltag nachlassen“, ruft Fischer. Da, wo Wolfgang Niedecken von BAP gerade vier Millionen Arbeitslose zur Nebensache erklärt hat („Es geht doch nicht um diese Arbeitsplatzgeschichte“), steht Fischer im Nadelstreifensakko. Die Krawatte ist abgelegt: „Vor uns liegt eine harte Woche.“ Das ist die doppelte Ironie dieses Wahlkampfs: Noch vor Tagen gab kaum jemand mehr einen Pfifferling auf die Fortsetzung des rot-grünen Projekts. Aber jetzt herrscht am Pariser Platz in Berlin plötzlich eine besoffen-glückselige Atmosphäre – weil Stoiber angeblich keine Chance mehr hat. Die Menschen wollen am Tor mit BAP und Bier den Sieg der neuen kulturellen Freiheit feiern. Aber der grüne Vorkämpfer fordert Schweiß und Tränen – damit die Leichtigkeit auch garantiert siegen möge.

Die Leute juckt der Widerspruch nicht. Sie blinzeln in die Abendsonne, die über die Quadriga herübersticht. Sie genießen den schönen Septemberabend. Und nehmen’s mit der Politik nicht so genau. „Klar kritisiere ich diese Regierung in hunderttausend Punkten“, sagt Jutta Weber. „Aber gibt es eine Alternative zu Integration, zu kultureller Vielfalt oder dem Atomausstieg?“, fragt die extra aus Hamburg angereiste Endzwanzigerin.

In Webers Nähe wippen die Teenies Marie und Anna aus Bonn zu den BAP-Songs. Sie sind Erstwählerinnen, wissen noch gar nicht, wo sie ihr Kreuz am Sonntag machen werden. Zu den Politikerauftritten sind sie zu spät gekommen. „Mann, das ärgert mich“, entfährt es Marie, „ich hätte das so gerne erlebt.“ Was? „Na, Fischer und Schröder!“

Politik wichtiger als Musik – so geht es offenbar vielen. Solange der Kanzler sein Publikum damit umschmeichelt, dass ihm „Solidarität und Gemeinsinn“ wichtig seien, dass er Ökonomie und Ökologie versöhnen wolle, dass „Frauen so leben können, wie sie wollen, und nicht wie Konservative es ihnen vorschreiben“, solange bleiben die Leute. Als Fischer sagt, dass er Außenminister sein will, sind die Fans regelrecht aus dem Häuschen. Aber sie wandern ab, kaum dass Fischer und Schröder den vermeintlichen Zugpferden von BAP die Bühne überlassen. Binnen weniger Minuten halbiert sich die Menge.

Dieter und Marianne K. bleiben. Das Pensionärspärchen schunkelt zu BAP. Dass sie Stoiber wählen, kommt nicht in Frage, sagen sie. Aber warum Schröder? Weil Marianne K. „gegen Krieg“ ist. Und weil ihr Dieter nicht will, „dass Unternehmen ihre Mitarbeiter wie eine Ware behandeln“. Schröder war mal Genosse der Bosse, gab mal den „bedingungslos solidarischen“ Afghanistankrieger. Jetzt hat er halt ein neues Image. „Das muss er irgendwo halten“, meint Dieter K. fröhlich. Irgendwo. Irgendwie ist das ein typisch rot-grüner Abend. Die Atmo ist prima. Hinter dem Tor stehen die Staatskarossen, vor dem Tor hopsen sie zu BAPs „Verdamp lang her“. Und wie’s am 23. September weitergeht, weiß keiner so genau.