Speck auf dem Film

Zwischen den großen Lebensfragen und den feinen Unterschieden geht die Genauigkeit verloren. Und die Liebe bleibt eine faule Behauptung von Intensität: Doris Dörries neuer Spielfilm „Nackt“

Die Figuren gehenaus dem Filmheraus, wie sie hineingegangen sind

von MANFRED HERMES

Ein Paar ist auch ein Bild, in dem zwei Personen aufgehen. Je schöner dieses Bild werden soll, umso größer ist der Aufwand, den die PR-Abteilung der Paar-AG zu treiben hat. So ist es jedenfalls bei Charlotte und Dylan, die in Doris Dörries „Nackt“ in ihr Neureichenheim einladen. Die Dinnerparty geht zickig los, denn Dylan verhunzt Charlottes anspruchsvolle Geflügelreduktion mit einem Schuss süßer Sahne. Nun muss es eine telefonisch georderte Pekingente tun, den Unterschied bemerken die anderen sowieso nicht. Die anderen, das sind zwei weitere (Ex-)Paare, Emilia und Felix, Anette und Boris, die auf der sozialen Skala weit unter ihren Gastgebern rangieren. Keine Ahnung, was die sechs früher aneinander gefunden haben. Zwischen gestern und heute steht anscheinend der Neue Markt, der den einen nahm, was er den anderen gab. So viel zum Hintergrund.

Doris Dörrie wäre aber nicht Doris Dörrie, wenn es bei ihr um gesellschaftliche Fragen wie Neiddebatten und Verteilungskämpfe ginge. Lieber will sie von der Sehnsucht nach, der Möglichkeit von oder einfach nur so von der Liebe im Zeitalter von Materialismus, Angeberei und Körperfixiertheit sprechen, natürlich unter dem Mantel der Komödie. Humor, wie so oft durch laute Zickigkeiten und gehetzte Dialogsalven signalisiert, geht hier so: Man beklagt sich, weckt schöne Erinnerungen, sondert Sentenzen ab und stellt fest, dass es mit der Liebe und der Vertrautheit nicht mehr zum Besten steht. Da bricht es aus Heike Makatsch, die hier die Krankenschwester Emilia spielt, folgendermaßen heraus: „Du hast ja Speck auf der Seele.“

Dieser Speck auf der Seele, der als Bild für Überdruss und Wohlstand von nun an immer wieder Verwendung findet, zeigt mit spitzem Finger auf die vielen Unschärfen in Doris Dörries Programm. Sie will das Kritische und das Sprühende, das Asketische und Hedonistische, Jeans und Issey Miyake. Aber zwischen den großen Lebensfragen und feinen Unterschieden geht die Genauigkeit verloren. In Dörries Deutschland heißen die Frauen nicht Doris, Heike und Brigitte, sondern Charlotte, Anette und Emilia. Sie sehen aus wie Ende zwanzig, sprechen aber wie Anfang fünfzig. Diese vage zeitgenössische Atmosphäre will die vermuteten Adressaten des Films ebenso hereinholen wie den spezifischen Horizont der Autorin bewahren.

Diese Mischung verschiedener Mittelklassen und Generationen ergibt aber eine höchst unplausible Darstellung deutscher Realitäten und Beziehungsfragen. Besonders gespenstisch wird es, wenn ein Schauspieler türkischer Abstammung (Mehmet Kurtulus) einen Mann namens Dylan spielt, was – in einem Rahmen, der von ethnischer Diversität nicht gerade platzt – ethnische Zuschreibungen gerade unterlaufen soll. Die wenigen zutreffenden Beobachtungen und Sätze werden zudem von einem metaphysischen Liebeskonzept restlos ausgehebelt, das ein Überbleibsel der in dieser Hinsicht wirklich scheußlichen deutschen Achtzigerjahre ist. Liebe ist bei Doris Dörrie immer noch nichts anderes als eine faule Behauptung von Intensität und Authentizität jenseits von Kultur, Berechnung und Ökonomie.

Bei Tisch wird erwähnt, eine Studie habe gezeigt, dass selbst Paare, die schon lange zusammen seien, auf einem Foto nicht mal die Hände ihres Partners erkennen konnten. Das treibt die Verunsicherung auf den Höhepunkt, man will es genau wissen. Der Test wird im Sinne des viel versprechenden Filmtitels modifiziert. Vier Schauspieler ziehen sich aus, zwei spielen Schiedsrichter und bleiben bekleidet. Bevor sie zur Prüfung antreten – streng nach Geschlecht geordnet –, werden den Nackten die Augen verbunden. Was in jedem anderen Wohnzimmer als Gelegenheit zum Partnertausch genutzt würde, bleibt bei Dörrie streng einem monogamen Interesse verpflichtet. Aus ihrem Film gehen denn auch alle heraus, wie sie hineingegangen sind. Es bleibt ihnen nur eine genügsame Versöhnlichkeit im gesellschaftlichen Niemandsland.

„Nackt“. Regie: Doris Dörrie. Mit Heike Makatsch, Jürgen Vogel, Mehmet Kurtulus u. a., Deutschland 2002, 98 Min.