Arme haben schon verloren

Appell der Nationalen Armutskonferenz: Bekämpft die Armut statt der Armen!

BERLIN taz ■ Für Erika Biehn ist die Wahl schon entschieden. „Es ist unerheblich, welche Regierung wir demnächst haben“, erklärte die stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Armutskonferenz in Deutschland gestern in Berlin. Bis Sonntag beraten dort europäische Nichtregierungsorganisationen über soziale Ausgrenzung in der EU. Und man ist von allen Parteien enttäuscht: Es würden „die Armen bekämpft, nicht die Armut“.

Beispiele? Aber gern. Jedes 7. Kind in Deutschland gilt als arm. Trotzdem, so Erika Biehn, werde das Kindergeld auf die Sozialhilfe der Eltern angerechnet. Oder die Hartz-Konzepte für eine Reform des Arbeitsmarkts: Sie würden sich auf die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger konzentrieren, die verstärkt in einen Job vermittelt werden sollen. „Die Nichterwerbsfähigen werden links liegen gelassen“, kritisierte Biehn.

Das passe zum Trend: Generell werde Armutsbekämpfung in Deutschland vor allem als „Integration in den Arbeitsmarkt und Qualifizierung“ verstanden. Eine „eingeschränkte Handlungsperspektive“, wie die Nationale Armutskonferenz findet: Sämtliche Qualifizierungsmaßnahmen könnten nichts daran ändern, dass „angemessene“ Stellen fehlten. Die Nationale Armutskonferenz fordert daher unter anderem eine bedarfsorientierte Grundsicherung.

Wie der Name Nationale Armutskonferenz schon andeutet, gibt es auch ein grenzüberschreitendes Pendant: das „Europäische Armutsnetzwerk“ (EAPN), das sich ab heute in Berlin trifft und in dem sich 23 Nichtregierungsorganisationen aus allen 15 EU-Mitgliedstaaten zusammengeschlossen haben. Unter ihnen sind zahlreiche Selbsthilfeorganisationen.

Die Kernforderung der 120 Delegierten lautet: Die europäische Grundrechtecharta müsse „nachgebessert“ werden und „ein Recht auf Arbeit, auf Wohnen und auf Grundsicherung“ festschreiben. Denn schon jetzt gelten 62 Millionen Bewohner in der EU als arm, 18 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Zahl dürfte noch deutlich steigen, wenn die Europäische Union sich nach Osten erweitert.

Allerdings ist die EU nicht untätig geblieben. Jeder Mitgliedstaat wurde aufgefordert, einen „Nationalen Aktionsplan“ zur Armutsbekämpfung abzuliefern. Die NGOs kritisierten gestern, dass die meisten Aktionspläne nur bestehende Maßnahmen darstellen, und keine „innovativen Strategien“.

Dabei gibt es viel zu tun – so fehlt es bereits an statistischen Daten. Wie hängen etwa Armut und Krankheit zusammen? Die Nationale Armutskonferenz vermutet, „dass Arme ein zehnmal höheres Gesundheitsrisiko haben“. Aber genau weiß man es nicht. Bisher weiß man vor allem eines: „Die soziale Ausgrenzung hat zugenommen“. ULRIKE HERRMANN