Gefühlte Prozente bis zum Schluss

Auch in der Woche vor den Wahlen werden noch munter Umfragen veröffentlicht. Forsa sieht Rot-Grün vor Schwarz-Gelb, Allensbach wittert Stoiber wieder im Aufwind. Fest steht lediglich: Ein Verbot von Last-Minute-Prognosen ist nicht realistisch

von JAN FEDDERSEN

Ginge es nach dem Bundestagspräsidenten, sollte es zwei bis drei Wochen vor den Bundestagswahlen gar keine Veröffentlichung von Meinungsumfragen mehr geben. Das trüge „zu einer Beruhigung einer gelegentlich sehr hektischen Atmosphäre“ bei, so Wolfgang Thierse. Worauf der Sozialdemokrat auf dem überparteilichen Posten anspielt, ist die Flut an Prophezeiungen, die publiziert wird – als Element öffentlicher Kaffeesatzleserei einerseits, als Stimmungsbarometer, das in Wahlkampfzentralen gerne abgelesen wird, andererseits.

Vier Tage vor der Wahl wurden gestern erneut aktuelle Zahlen veröffentlicht: Während Forsa (für den Stern und RTL) der rot-grünen Koalition einen knappen Vorsprung vor der schwarz-gelben Alternative attestiert, fand das Emnid-Institut im Auftrag der Wirtschaftswoche heraus, dass Kanzler Schröder inzwischen von 43 Prozent der Bundesbürger die Schaffung von Arbeitsplätzen zugetraut wird. Stoiber erhielt zwar auch 41 Prozent – doch noch im Juni lagen seine Werte um sieben Prozent vor denen des Amtsinhabers.

Wie gewohnt legte nur das Allensbach-Institut, von der FAZ beauftragt, eine andere Prognose vor: Die Union liege nach einem Patt in der vorigen Woche wieder drei Zehntel vor der SPD (37,3 bzw. 37 Prozent). Der FDP prophezeit Allensbach nach wie vor ein zweistelliges Resultat (10,1 Prozent) und damit einen Vorsprung vor den Grünen von 2,9 Prozent. Die Differenz zu den anderen Instituten erklärt Ekkehard Piel, Allensbach-Pressesprecher, damit, dass traditionell viele Union- und SPD-Wähler in letzter Minute der FDP zur Koalitionsfähigkeit verhülfen. Einige der anderen Institute attestieren demgegenüber den Grünen ein besseres Abschneiden als den Traditionsliberalen.

Nur zwei Institute veröffentlichen keine Zahlen mehr – die Forschungsgruppe Wahlen, beim ZDF unter Vertrag, und Infratest-dimap, bei der ARD auf der Payroll: Beide Häuser haben sich verpflichtet, in der letzten Wahlkampfwoche keine Prognosen mehr zu nennen. Dieses Verfahren, sagt Matthias Jung, Leiter der Forschungsgruppe Wahlen, diene dazu, „die Wähler nicht zu irritieren“. Sozialwissenschaftlich ist der so genannte „bandwaggon effect“ längst belegt: Viele politisch Unentschiedene neigen zum Votum für jene Partei, der ein Triumph geweissagt wird – weil man selbst auf der Seite eines Siegers stehen möchte.

Ob sich die Sitte der Prognoseabstinenz hält, ist, so Jung, offen: „Da ist viel in Bewegung.“ Gesetzliche Bestimmungen, wie von Thierse gewünscht, sind unpraktikabel. In Frankreich ist es vier Wochen vor der Wahl untersagt, Prognosen zu veröffentlichen. Dies führt allerdings schlicht dazu, dass sie stattdessen in den französischsprachigen Zeitungen Belgiens publiziert – und von französischen Medien zitiert werden.