Bekenntnis-Kompositionen

Begegnungen: Das Philharmonische Staatsorchester und die NDR-Sinfoniker beschließen das diesjährige Hamburger Musikfest mit vernachlässigten Neutönern und klassischen Ausreißern

von REINALD HANKE

Wer das Programm des im dritten Jahr wiederbelebten Hamburger Musikfestes verfolgt, konnte bisher eine Reihe hoch interessanter künstlerischer Begegnungen machen. Eine Mischung, hinter der ein Konzept zu erkennen zwar ein wenig schwer fällt, doch lässt die Vielfalt an Gebotenem ungewöhnlicher Art diesen Mangel nicht allzu sehr ins Gewicht fallen. Und einen dünnen roten Faden kann man dann ja doch erkennen: „Musik als Zeugnis“, so formulierte der Künstlerische Leiter Ingo Metzmacher sein Credo für dieses kleine aber feine Festival. Er meint damit, dass er Werke präsentieren will, in denen die Komponisten Farbe bekennen und Zeugnis ablegen für eine bestimmte Haltung, zu der sie standen oder stehen.

Metzmacher dürfte dies nicht nur im gesellschaftlich-politischen Sinne verstanden wissen wollen, sondern auch im ganz subjektiven Sinne des künstlerischen Sich-Bekennens zu den eigenen Gefühlen. Anders ließe es sich nicht erklären, dass er Franz Schuberts intime Winterreise ebenso auf das Programm gesetzt hat wie die unverkennbar mit gesellschaftlich-politischen Hintergedanken komponierte 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch oder Orchesterwerke von Karl Amadeus Hartmann. Gerade dieser zu Unrecht wenig bekannte Münchner Komponist vereint in seiner Person die Figur des Bekenntnismusikers mit derjenigen eines ausdrücklich auch gesellschaftspolitisch denkenden und komponierenden Künstlers.

Als Beispiele aus dem Schaffen Hartmanns werden die Gesangsszene und das Concertino für Trompete und sieben Solisten zur Aufführung kommen: Heute Abend steht sein so genanntes Fragment einer 10. Sinfonie, die „Gesangsszene“ auf dem Programm des NDR-Sinfonieorchesters unter Christoph Eschenbach. Ergänzt wird das Programm durch ein neues Stück aus der Feder Wolfgang Rihms, das dieser wiederum als Bekenntnis zu dem Komponisten Wilhelm Killmayer verstanden wissen will. Dies ist insofern bemerkenswert, als Killmayer in der Szene der Neuen Musik von vielen als konservativer Außenseiter belächelt und in seiner künstlerischen Substanz bis heute kaum erkannt wurde.

Solistisches Hauptwerk – und laut Metzmacher „kleiner Ausreißer“ – des Abends ist das 5. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven mit dem wohl intellektuellsten Virtuosen unter den derzeitig hoch gehandelten Pianisten, Pierre-Laurent Aimard. Vor dem Sinfoniekonzert ist eine ungewöhnliche Aufführung zu erwarten, eine Bearbeitung der Winterreise von Franz Schubert für Posaune und Tonband des österreichischen Performance-Künstlers Bertl Mütter. Seiner Interpretation geht ein vielversprechender Ruf voraus, war es Mütter doch vor zwei Jahren in Wien bereits einmal gelungen, beim Publikum die gleiche Reaktion auszulösen wie seinerzeit Schubert mit seinem berühmten Lieder-Zyklus selbst: zutiefst beeindruckte Ratlosigkeit, bei manchen Begeisterung, bei anderen Kopfschütteln.

Am Sonntag wird Festivalleiter Metzmacher dann nach seinem Berio-Dirigat ein zweites Mal selbst im Rahmen des Festivals aktiv werden und neben Schostakowitschs 11. Sinfonie und Hartmanns Concertino ein Stück Bernd Alois Zimmermanns dirigieren. Mit seinem Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see bekannte sich der Neutöner Zimmermann 1954 zu einer Musik, die von vielen seiner deutschen Kollegen nicht ernst genommen wurde, nämlich zum Jazz und seinen diversen Spielformen in der damaligen Unterhaltungsmusik. Heute würde man eine derartige Kompositionsweise wahrscheinlich mit dem grausamen Wort „Crossover“ bezeichnen. Zimmermann brauchte derartige Bezeichnungen nicht, er schrieb, im Gegensatz zu manchem Kollegen, einfach gute Musik.

Bertl Mütter (Schubert: Winterreise: Mütter): heute, 18 Uhr; NDR-Sinfonieorchester (Stücke von Rihm, Beethoven und Hartmann): heute, 20 Uhr; Abschlusskonzert des Philharmonischen Staatsorchesters (Hartmann, Zimmermann, Schostakowitsch): So, 11 Uhr (Einführung: 10.15 Uhr); Literarisches Nachtcafé mit Christina Weiss: jeweils 22 Uhr; alles Musikhalle