Auf Kandidatur

Von Hannoverandertalern, angekreuzigten Heiligen, lauem Lügenwein und Saddam, dem Unsterblichen: Eine Menschheitsgeschichte des Wählens

von ULI HANNEMANN

Vorgestern

Die Kandidaten standen in einer Reihe und grunzten: Mammut-Ede lauste sich den Pelz, während sich Tunten-Gerd selbstverliebt Matsch in die vormals grauen Haare rieb. „Ugga-ugga-ugga“, heulten die Spätprimaten erwartungsfroh, als wir Wähler uns langsam näherten und im Halbkreis um sie herum aufstellten – einen von ihnen würden wir in Kürze zum Sippenführer wählen. „Ene, mene, mu – und raus bist du“, schrie der Wähler neben mir und ließ seine Keule derart wuchtig auf die flache Ömme eines der Kandidaten krachen, dass nur noch 18 Prozent der Schädeldecke intakt blieben. „Ugga-ugga-ugga“, freuten sich die überlebenden Anwärter, während diejenigen, die bereits gewählt hatten, den leblosen Leichnam zur Feuerstelle schleiften und dort zügig aufbrachen.

Ich durfte erst kurz vor sechs wählen und war somit einer der Letzten: „Ene, mene, mu …“, entschied ich mich fix, wirbelte meine Keule durch die Luft und brachte die fünfprozentige Überlebenschance des überraschten Hannoverandertalers auf null. Schließlich war nur noch Mammut-Ede übrig und somit der neue Sippenführer. Zur anschließenden Wahlparty standen wir lachend und schwatzend ums Feuer herum und verzehrten die knusprig gewordenen Verlierer. Der (noch nicht) frisch gebackene Häuptling starrte, mit dem Rücken zu mir stehend, in die Flammen und ich schubste …

Gestern

„Den Heiland, wir wählen den Heiland“, rief die Menge. Sie setzten ihm eine Dornenkrone auf, piesackten ihn mächtig und kreuzigten ihn an. Diesen Tag hatte er sich bestimmt ganz anders vorgestellt, und die beiden Kandidaten, die man als Zweit- und Drittstimme angekreuzigt hatte, ebenfalls. Nun hingen sie da und warteten auf die erste offizielle Hochrechnung. Aber was sollte es – „jetzt ein bisschen leiden und dafür am dritten Tag die Mordswahllüge platzen lassen: von wegen für euch gestorben, das könnte euch so passen, ihr könnt mich mal kreuzweise. Ein mal ankreuzen gibt achtzehn mal Stinkefinger – so einfach ist die Rechnung, Herrschaften“, tröstete sich der Auserwählte und schubste …

Heute

„Haben Sie schon gewählt?“ Ich schrak zusammen: „Nein – Entschuldigung, ich habe noch gar nicht auf die Karte geguckt.“

„Oh – das macht gar nichts“, tröstete der livrierte Ober, „ich komme dann einfach später noch mal vorbei.“ Ein wenig bedauernd wandte ich den Blick von dem Wandfresko mit der üppigen Odaliske und begann zunächst die Getränkekarte zu studieren: Ein 18-prozentiger lauer Lügenwein – der wäre als Aperitif nicht schlecht, aber der Preis: Nichts für arme Schlucker! Im Nebenraum schien man sich reichlich von dem Zeug leisten zu können: „Ihr Ostbräute wollt und braucht das“, röhrte eine Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam. Eine weibliche Zweitstimme giggelte neckisch. Offenbar hatten sie dort jede Menge Spaß. „Das PDS-Zimmer“, erklärte der vorbeikommende Geschäftsführer und zuckte entschuldigend mit den Achseln, aber zu beruhigen vermochte er mich nicht. Auch das Angebot auf der Karte war kaum überzeugend: Ich faltete die Zettel zusammen, ohne gewählt zu haben, und verließ das Wahllokal.

„Könnten Sie mir bitte mit dem Kinderwagen helfen?“, bat vor der Tür eine junge Mutter. Ich half ihr, den Wagen mit der nuckelnden Jungwählerin über die steile Fünfprozenthürde am Eingang zu heben. „Auch nicht gerade behindertenfreundlich“, knurrte ich und schubste …

Morgen

Wie immer wählte ich Saddam, den Unsterblichen. Wen auch sonst. Schon bald, nachdem vor zweitausend Jahren als erstes Signal der so genannten Gründerepoche diese beiden posteiszeitlichen Stangenbunker in die Luft geflogen waren, wurde die Wahlprozedur weltweit stark vereinfacht: Erststimme – Saddam, der Unsterbliche. Zweitstimme – Saddam, der Unsterbliche. Drittstimme – Saddam, der Unsterbliche.

Unsterblich geworden durch einen bizarren Zufall, nachdem er seinen Rüssel eher versehentlich in die Dämpfe einer brennenden Apotheke in Bagdad City gehalten hatte, die von den Amerikanern als vermeintliche Giftgasfabrik bombardiert worden war. Kurz darauf verschwanden die USA bis auf einen kleinen Rest von 18 Prozent von der Landkarte – bei dem Versuch, Al-Qaida-Mitglieder in Liechtenstein aufzuspüren, hatte sich das angegriffene Land überraschend heftig zur Wehr gesetzt.

Ich kreuzte weiter an: Viertstimme – Verena Brutalikakis: „Für Neukölln und Bagdad in den Bundestag“ – eine Nebenfrau Saddams, des Unsterblichen. Mit einem Scan meines Fingerabdrucks schickte ich den Wahlzettel in die E-Urne und schubste …