Die Haifischdompteuse


Für Edmund Stoiber hängt fast alles von der Wahl ab, für Merkel fast nichtsHintergedanken darf man ihr unterstellen: „Ich denke vom Ende her“, sagt sieWem gilt ihre Neugier? Dem Leben? Der Politik? Oder doch der Macht?

von PATRIK SCHWARZ

„Dös is a ganz a neue Methode“, wienert der Mann im weißen Kittel. In der Tat besitzt er Instrumente, diese Frau so gründlich zu durchleuchten, wie das bisher noch niemand getan hat: Angela Merkel, die den einen als Aufsteigerin des Jahrzehnts gilt, den anderen als Verliererin des Jahres, und deren Zukunftsplanung selbst ihren Vertrauten Rätsel aufgibt. Der Direktor in Berlins Riesenklinikum Charité hat der prominenten Besucherin eine Art Pille überreicht. Drahtloses Kapsel-Endoskop heißt das Ding und ist ein U-Boot für die Eingeweide. „Schlucken muss ich die einfach so, wie ’ne Tablette?“, fragt Merkel.

Einmal eingenommen, könnte sich das U-Boot Stunde um Stunde durch Schlund, Magen und Gedärme arbeiten – und pausenlos detaillierte Videobilder der CDU-Vorsitzenden auf einen Monitor senden. So genau kennt niemand Angela Merkel, nicht Roland Koch, hessischer Ministerpräsident, und ihr ewiger Konkurrent, nicht Beate Baumann, ihre treue Begleiterin und Büroleiterin vieler Jahre. „Die meisten scheiden die Kapsel nach ein bis zwei Tagen wieder aus“, sagt ein Assistenzarzt, „der Darm ist ja sechs Meter lang.“

Angela Merkel hält das Darm-U-Boot zwischen zwei Fingern, rollt es vor und zurück. Ihr versonnenes Lächeln fragt: Soll ich’s riskieren, jetzt, hier, vor den Honoratioren, den kichernden Krankenschwestern, den drei Fotografen, die mitgekommen sind zur Wahlkampfvisite ins Klinikhochhaus mit seinen 2.334 Betten? „Sie hat eine bis ins mädchenhafte gehende Neugier“, hat ein enger Mitarbeiter beobachtet, „das ist für sie wie die Sendung mit der Maus.“

Aber wem gilt ihre Neugier? Dem Leben? Der Politik? Oder der Macht? An diesem Morgen fragt Angela Merkel nicht nach ihrem Innenleben, sondern nach der Kostenexplosion im Gesundheitswesen: „Die Kamera, kann man die danach regenerieren?“ Nein, lautet die Antwort, die ist futsch. Merkel legt die Kapsel beiseite.

Seit sie als 35-Jährige den deutsch-deutschen Vereinigungswirren entstieg, hat sich der politische Azubi zur versierten Managerin der Macht entwickelt. Irgendwann auf diesem langen Marsch sind sie eins geworden, die zwei: ihr Leben und die Macht. Nie ist das deutlicher geworden als in diesen letzten Tagen vor dem 22. September. Wenn heute schon eine Gewinnerin der Bundestagswahl feststeht, dann ist es die CDU-Vorsitzende.

Für Edmund Stoiber hängt fast alles vom Wahlausgang ab, für Angela Merkel fast nichts. Gewinnt er, ist die CDU-Vorsitzende die wichtigste Frau der Koalition. Kehrt der Bayer nach München zurück, gehört die Berliner Bühne wieder ihr. „Wenn die Wahl gewonnen wird, sitzt sie fester im Sattel als je zuvor“, sagt ein Vertrauter aus der CDU-Parteizentrale. Schließlich hat Merkel ihren Ehrgeiz Stoibers Kanzlerkandidatur untergeordnet. Verliert die Union, „kann niemand ihr vorwerfen, sie hätte irgendetwas zum Misslingen beigetragen“. Stoibers Sieg wäre ein geteilter, seine Niederlage eine einsame.

War sie Machtstrategin genug, die doppelte Chance zu ahnen? Im Januar schien die ewige Aufsteigerin am Tiefpunkt ihrer Laufbahn zu sein – und Edmund Stoiber der starke Mann. Doch Angela Merkels Weg von der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur an Stoibers Frühstückstisch bis zur Wahl am morgigen Sonntag ist so dramatisch verlaufen, wie ihn nur ein professioneller Dramaturg erahnen konnte. Bis morgen läuft im ungenutzten Berliner U-Bahnhof Reichstag „Angela, eine Nationaloper“. Das Singstück gipfelt im „17. Bild – Frühstück in Wolfratshausen“, Regieanweisung: „Showdown.“ Statt dem Bayern die Kanzlerkandidatur zu servieren, streckt Merkel ihn mit zwei Pistolenschüssen nieder. Das Volk stimmt dazu einen Choral an, Titel: „Deutscher Trost“.

Ist sie so hart? Wie kalt entschlossen geht sie in Machtkämpfe? Angela Merkel scheut nicht den Blick auf die gruseligen Seiten des Lebens. In der Charité will der Klinikdirektor ihr den Anblick der Ausnüchterungszelle ersparen. „Zeigen Sie mal her!“, ruft sie, „ist da einer drin?“ Die Zelle ist leer, Merkel enttäuscht.

In Wolfratshausen hat die CDU-Chefin ihrem Konkurrenten von der CSU nur ungern den Vortritt gelassen. Umso mehr darf man ihr Hintergedanken unterstellen. „Ich denke vom Ende her“, sagt sie gerne über sich. „Ich bin nicht sicher, ob sie wusste, dass ihr Schritt zur Seite der richtige war“, sagt ein konservativer Chefredakteur, der sie schon lange kennt, „aber sie hat es schnell gemerkt.“ Gegnerbeobachtung war schon immer ihre Stärke. Stoiber, das Kunstprodukt, gezüchtet im Glashaus der bayerischen Staatskanzlei, würde es draußen im Wahlkampf schwer haben, das war der Pfarrerstochter vom Lande klar.

Seit acht Monaten ist Edmund Stoiber Kanzlerkandidat, nicht immer lief es gut, und acht Monate lang hat sich Angela Merkel nicht einen Halbsatz der Kritik entlocken lassen. Die Union, noch mehr als andere Parteien, liebt die Loyalität. Merkels Schweigen ist ihr Sparbuch: Je länger sie es durchhält, desto größer ist ihr Guthaben.

Ihre eigenen Verletzungen vergräbt sie. „Vor der Rettungsstelle, da hab ich den allerhöchsten Respekt“, sagt sie nur, als der Klinikrundgang sie in die Notaufnahme führt, „was da jeden Abend passiert, das ist schlimmer als Politik.“ Spätestens seit ihrem Kampf um den CDU-Vorsitz leiden weit mehr Menschen mit ihr, als die Union Wähler hat. Doch Mitleid mit Merkel entspringt einem Missverständnis.

„Sie lässt sich so lange verhauen, bis der richtige Zeitpunkt da ist“, hat ein Mitarbeiter beobachtet. Dann haut sie zurück. „Schauen Sie nur, wie viele Leute sie aus dem Weg geräumt hat“, sagt der rechte, konservative Chefredakteur, der sie ein bisschen bewundert und ein bisschen unheimlich findet, „wie viele de Maizières, Krauses, Kohls und Schäubles …“ Und das sind nur ihre Ziehväter.

Seit sie selbst an der Spitze von 600.000 Parteimitgliedern steht, hat sie es erstmals mit Gleichaltrigen zu tun: Merz, Müller, Rüttgers, Wulff und Koch. Da ist das Warten auf den richtigen Zeitpunkt noch wichtiger geworden. Spätestens 2006 wird ein neuer Bundestag gewählt, und spätestens dann möchte Angela Merkel Kanzlerin werden.

Auch ihr Widersacher Roland Koch ist im Jahr 2006 gerade erst 48 Jahre alt. Doch ehe jemand auf falsche Ideen kommt, sagt sein Regierungssprecher Dirk Metz: „Das Verhältnis ist viel, viel, viel besser, als Journalisten gerne verbreiten.“ Von einer möglichen Konkurrenz um die Kanzlerkandidatur mag Metz nichts hören: „Mich interessiert die Baustelle 2. Februar 2003, da haben wir Landtagswahlen.“ Auch Koch hat das Warten gelernt.

Den Ärzten in der Charité erzählt Merkel, wie sich kürzlich in ihrem Büro Verbandsfunktionäre aus dem Gesundheitswesen fast an die Gurgel gingen – bis sie einschritt: „Die Politik hat die Macht, die Haifische zu zähmen.“ So sieht sie sich: allein im Tiefseebecken. Dass sie zum Überleben noch manches lernen muss, gibt sie in kleinen Runden durchaus zu.

Wie Angela Merkel die Zeit bis 2006 nutzen kann, hat der FAZ-Leitartikler Georg Paul Hefty ihr schon im Sommer 2000 aufgeschrieben. Sein Leitartikel vom 28. August liest sich wie eine Wegbeschreibung ins Kanzleramt. Mädchen, lern von Papa Kohl, lautet Heftys Quintessenz: In der CDU hält sich nur oben, wer noch im letzten Kreisverband Getreue hat.

Merkel hat den Rat beherzigt, und so können selbst Landtagsabgeordnete von überraschenden Anrufen der Parteivorsitzenden berichten. Man habe sich doch vor zwei Jahren hier oder dort getroffen, heißt es dann zum Beispiel am anderen Ende der Leitung, und ob man nicht zu einem bevorstehenden CDU-Fachkongress einen Artikel beisteuern wolle? Dann fragt sie noch: „Und alles in Ordnung daheim?“ Es klingt nach Kohl.

Doch Merkel beherrscht mehr als die Netzwerktechnik des Dicken: Wo er Menschen überrollt, erobert sie ihre Herzen. Im Konferenzsaal der Charité referiert ein Verwaltungsleiter – mit Halbglatze und Tageslichtprojektor – noch keine fünf Minuten zur Geschichte des Klinikums, da hat ihn die Besucherin bereits zweimal mit einer Frage unterbrochen, keck, ungeniert, präzise. Zweimal erntet sie dafür Oberlehrerblicke. Der Referent fährt fort, rühmt sich, sein Haus entlasse die Kranken immer früher. „Liegt das am Arzt“, geht Merkel zum dritten Mal dazwischen, „oder kommt der Mensch halbtot nach Hause?“ Die zwei Patienten im Morgenmantel, die durch die offene Tür zuschauen, kichern jetzt unverhohlen. Der Klinikfunktionär steht als Wichtigtuer da, und die Quertreiberin ist zur Volksanwältin geworden. Im Frühjahr 2000 beklatschten die CDU-Regionalkonferenzen Angela Merkel dafür so lange, bis ihr der Parteivorsitz sicher war.

So viel Zuwendung wie der Basis lässt die Vorsitzende nur noch einer Gruppe in der CDU zuteil werden: ihren Feinden. So ist der saarländische Ministerpräsident Peter Müller nicht der Einzige, der in kleinen Runden klagt, die Vorsitzende kümmere sich mehr um ihre Gegner als ihre Freunde. Ganz so ist es nicht. Aber mit Koch, meint ein CDU-Abgeordneter aus dem Merkel-Lager, verbindet sie ein Gleichgewicht des Schreckens: Die beiden seien einander „ebenbürtige Gegner“.

Einen nicht ganz so ebenbürtigen Konkurrenten will Merkel möglichst schon nächste Woche loswerden. Egal wie die Wahl ausgeht, die Parteivorsitzende wird wohl nach dem Fraktionsvorsitz greifen. Die Chancen von Friedrich Merz auf erfolgreiche Selbstverteidigung gelten als schlecht. Angela Merkel würde dann nicht nur die größere der beiden Unionsparteien führen, sondern auch die gut 200 Abgeordneten, von deren Unterstützung selbst ein Kanzler Stoiber abhängen wird – jeden einzelnen seiner Tage als Regierungschef. Kehrt der Bayer dagegen in den Süden zurück, kann sie in einer großen Koalition Gerhard Schröders Vizekanzlerin werden – oder in der Opposition auf 2006 warten.

Der Besuch in der Charité geht zu Ende. Am Schluss hat die Naturwissenschaftlerin noch mit den Ärzten über Forscherdrang und Forschungsfreiheit diskutiert. Die Parteivorsitzende versteht die Bedürfnisse der Professoren: „So wie sich jemand im Tierversuch eine Katze kaufen muss, brauchen Sie einen Patienten.“ In der CDU muss sich in den kommenden Wochen ein jeder überlegen, was er unter Laborchefin Merkel sein will: Laborant oder Katze.