Seelische Abgründe offen gelegt

Überwiegend gelungene Gratwanderung zwischen Ironie, Klischee und Drama: Jorinde Dröse inszeniert Andri Beyelers „The Killer in Me is the Killer in You My Love‘‘ als Slapstick mit eingestreuter brechtscher Distanz

Als Gerber (Jörg Kleemann) zur Gitarre greift, ist Hanna (Silke Steffen) schon weg. Mit Pornoheft-Moser auf und davon. Gerber hackt drei Akkorde, wild, schräg, verzweifelt. Sein Kopf schwillt krebsrot an, als er die Trennung aus sich herausbrüllt: „Wir müssen noch mal miteinander reden, sagt sie. Da gibt es nichts mehr miteinander zu reden, weil schon alles gesagt ist.“

Kleemanns stärkste Szene, denn da ist er ganz jugendliche Kränkung und Trennungsschmerz. Ansonsten wirkt er zu weit weg von seiner Rolle. Eben wie ein Erwachsener, der einen Pubertierenden spielt: Als er beschreibt, wie sein erster Kopfsprung im Schwimmbad Hanna zu Liebe gelingt, als er seinem kleinen Bruder einen Eimer Wasser über den Kopf schüttet, als er mit den anderen Jungs Glimmstengel inhaliert, Rothändle versteht sich, die harte Tour.

Regisseurin Jorinde Dröse baut Gerber, seinen kleinen Bruder (Markus Reymann) und Suhrbeck (Hans Löw) dazu nebeneinander auf, gerade so steif, dass eine ironische Distanz zum Lungenzug-Heldentum entsteht. So entgleitet die Szene dem Klischee. Dass sie nicht in Leblosigkeit abtaucht, liegt an Suhrbecks Knien. Die drückt er leicht beschämt aneinander, als er den anderen befiehlt: „Und jetzt Lungenzug.“ Als ob er ahnt, dass der Genuss gleich in die Hose geht. Klein Gerber steht in der Mitte, zwinkert nervös mit den Augen hinter seiner Brille. Er will mithalten mit den großen Jungs. Problem: Ihn interessieren die Mädchen nicht.

Noch nicht. Ein paar Monate weiter, im Herbst, sieht das anders aus. Schön schlicht setzt Jorinde Dröse den Jahreszeitenwechsel in Szene. Braune Blätter wirbeln über die hellblaue Holzballustrade, funktionieren sie um vom Schwimmbadbeckenrand zu einer Mauer irgendwo in der Stadt. Der Herbst macht Klein Gerber reif für die Balkon–szene. Im Kapuzenpulli, ein Romeo, der nicht klettert, sondern starrt. Auf Lena (Claudia Renner). Wie sie im Fenstersims sitzt, gebrochen, abgemagert, Objekt seiner Begierde.

Lena aber kreist nach wie vor um sich selbst, um ihre Minderwertigkeitskomplexe, um ihre Essstörung. Im Sommer, im Schwimmbad, zog sie ihr T-Shirt nicht aus, weil sie sich fett fühlte. „Ich bin die drittdickste in der Klasse.“ Dabei hat Lena im besten Fall kein Gramm mehr zu verlieren. Dafür aber ihren Lebenswillen: Als sie winken will, ist ihr Arm so schwer, dass die Bewegung sie vom Fensterbrett wirft. Claudia Renners Spiel öffnet mit diesen paar Gesten und Worten seelische Abgründe. Die junge Schauspielerin, mit dieser Spielzeit fest im Ensemble, kann das Thalia Theater nur bereichern. Katrin Jäger

weitere Vorstellungen: 23. + 24.9., 2.10., 3. + 6.11., jeweils 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße