Kastanien vor dem Herbstputz

Um die von den Miniermotten befallenen Kastanien vor dem Absterben zu retten, muss bis Oktober alles Laub entfernt und anschließend kompostiert werden. Dabei könnten auch die Berliner Schüler im Rahmen eines Projekttages helfen

Aus einem Kilo Laub können um Frühjahr 4.500 Miniermotten schlüpfen„Wir müssen uns an die Motte gewöhnen, weil wir sie langfristig nicht rausbekommen“

von UWE RADA

Berlin steht vor einer der größten Säuberungsaktionen seiner Geschichte. Alle Straßen, Höfe, Gartenanlagen und Parks müssen bis Anfang November vom Laub der weiß blühenden Rosskastanie befreit werden. Nur so, sind sich die Experten einig, lässt sich der Anfangsbefall der 20.000 Kastanien mit der Miniermotte im nächsten Frühjahr deutlich reduzieren.

Es ist ein trauriges Bild, das sich derzeit bietet. Einen Großteil des befallenen Laubes haben die Kastanien bereits abgeworfen, der Rest der zerfressenen Blätter wartet auf die ersten Herbststürme, um endgültig zu fallen. Andere Kastanien wiederum haben Nottriebe angelegt und vergeuden damit jene Kraft, die sie eigentlich für das Frühjahr bräuchten. Es steht schlecht um die Kastanien, räumen Pflanzenschützer mittlerweile ein. Bei einem ähnlichen Mottenbefall in den nächsten Jahren könnte schon in zwei bis drei Jahren ein Kastaniensterben einsetzen.

Zwar sind die Motten, deren Larven sich pro Sommer in mehreren Generationen durch die Blätter fressen, nicht unmittelbar tödlich. „Viele Kastanien können aber so geschwächt werden, dass sie in zehn Jahren zur Beute für andere Parasiten werden“, sagt Hartmut Balder vom Berliner Pflanzenschutzamt.

Was tun?, fragen sich deshalb nicht nur Experten, sondern auch besorgte Bürger. Bei der Grünen-Abgeordneten Felicitas Kubala gehen täglich mehrere Telefonanrufe und Mails ein. Ähnlich sieht es bei den Pflanzenschutzämtern in Berlin und Brandenburg aus. Manfred Lehmann vom Pflanzenschutzdienst in Frankfurt (Oder) sagt, vor einiger Zeit sei er noch ein Rufer in der Wüste gewesen. Inzwischen wisse jeder, dass der Kastanienschädling Miniermotte heißt und nicht Monier- oder Minimiermotte. „Das ist ein Aufregerthema geworden.“

Dies umso mehr, als die Forscher bislang noch immer kein wirksames Gegenmittel gefunden haben. Zwar haben sich Biologenteams inzwischen auf den Balkan begeben, um in der Herkunftsregion der Miniermotte nach natürlichen Feinden zu suchen. „Doch alles, was bisher gefunden wurde, vernichtet nicht einmal 10 Prozent der Population“, sagt Manfred Lehmann. Nötig wäre aber eine so genannte Parasitierungsrate von 95 Prozent. „Dazu kommt, dass das Vermehrungspotenzial der Motte einzigartig ist.“ Bis zu vier Generationen der Motte sind in diesem Sommer geschlüpft und haben nahezu den gesamten Kastanienbestand in Berlin und Brandenburg befallen.

Aber auch chemische Wirkstoffe sind bislang Mangelware. Der in Österreich bereits erprobte Schädlingshemmer Dimilin ist in Deutschland nicht zugelassen. Der Grund: Ähnlich der Medikamentenverordnung dürfen hierzulande auch bei Pflanzen nur jene Mittel verwendet werden, deren Wirkung erwiesen ist, und bei denen keine schädlichen Auswirkungen für Menschen und Tiere zu befürchten sind. Dabei ist das Zulassungsverfahren teuer und oft nicht rentabel für die chemische Industrie.

Ohnehin gilt, dass ein flächendeckender Sprüheinsatz – nicht zuletzt wegen des Grundwasserschutzes – in Städten und Gärten verboten ist. Das gilt auch für das mittlerweile auf den Markt gekommene pflanzliche Schutzmittel „Neem“. Das darf bislang nur in Baumschulen gesprüht werden. Doch selbst wenn in den nächsten Jahren ein neues Mittel zugelassen würde, wäre die Schädlingsbekämpfung viel zu teuer. In den meisten Fällen wäre nämlich der Einsatz von Hubschraubern die einzige Möglichkeit, den oft 30 Meter hohen Bäumen zu Leibe zu rücken.

„Die wirksamste Methode“, resümieren deshalb Pflanzenschützer wie der Brandenburger Manfred Lehmann, „ist die Vernichtung oder Großkompostierung des Kastanienlaubs.“

In der Tat hat es das Kastanienlaub in sich. In den abgefallenen Blättern überwintern die Puppen der letzten Generation, um in den ersten warmen Tagen des Frühjahrs zu schlüpfen. Hinzu kommen die Puppen, die sich jetzt bereits auf die Erde fallen lassen. Um einem Aussterben der Population infolge von Nahrungsmangel vorzubeugen, entwickeln sich nämlich nicht alle Puppen zu Schmetterlingen, sondern warten zwei oder sogar drei Generationen ab.

Insgesamt, so schätzt das Berliner Pflanzenschutzamt, können aus einem Kilo Kastanienlaub, das nicht ausreichend kompostiert wurde, im nächsten Frühjahr 4.500 Motten schlüpfen. In diesem Falle wären die Bäume noch schneller befallen als in diesem Jahr.

Doch Kompostierung ist nicht gleich Kompostierung. Um ein Schlüpfen der Puppen im Frühjahr zu verhindern, muss über dem zusammengesammelten Laub eine mindestens 10 Zentimeter hohe Erdschicht liegen, ein Vorgehen, das für allem für Kleingärten in Frage kommt. Ansonsten empfiehlt die BSR, die Blätter in Laubsäcken zu sammeln. Diese werden dann in den Großkompostierungsanlagen der Stadtreinigung unschädlich gemacht. Das Verbrennen des Laubes, von vielen Experten als sicherste Variante betrachtet, ist in Berlin allerdings verboten. „Das bleibt auch dabei“, heißt es dazu aus der Umweltverwaltung. „Schließlich wollen wir verhindern, dass neben dem Laub gleich noch ein alter Kühlschrank mit verbrannt wird.“

Vor allem bei Hofkastanien rechnen die Experten durchaus mit erfreulichen Ergebnissen. Voraussetzung ist allerdings, so Manfred Lehmann, dass das Laub nicht nur von der Erde, sondern auch von den Balkonen entfernt wird. Ebenso gut stehen die Aussichten für die Straßenkastanien. Große Probleme machen dagegen die Kastanien in den Berliner und Brandenburger Parks. Hier reicht das Personal der Ordnungs, und Natur- und Grünflächenämter oft nicht aus, um das Laub aus öffentlichen Anlagen zu entfernen.

„Dennoch steht das Thema Laubentfernung nach dem katastrophalen Einbruch der Motte in diesem Jahr ganz oben auf der Agenda der Ordnungs- und Straßenbehörden“, sagt Manfred Lehmann vom Pflanzenschutzdienst in Frankfurt (Oder). Gleiches gilt auch für die Hauptstadt. Zwar dementierte die Umweltverwaltung inzwischen Presseberichte, denen zufolge die Berliner Schüler zwei Tage freibekämen, um in den Parks und Wäldern Laub zu sammeln. „Aber im Rahmen eines Projekttages wäre das schon denkbar“, sagt Behördensprecherin Petra Reetz. Ähnlich hatte sich auch schon Schulsenator Klaus Böger (SPD) geäußert. Bereits am heutigen Montag wollen sich die Experten der Umweltverwaltung zusammensetzen, um über eine berlinweite Strategie zu beraten.

Allem Tatendrang in Sachen Laubsammeln zum Trotz warnen Pflanzenschützer aber vor übertriebenen Hoffnungen. „Selbst in einem mottenfreien Hinterhof genügen ein paar Motten, die jemand mit seiner Kleidung einschleppt, und alles geht von vorne los“, sagt Manfred Lehmann. „Wir müssen uns an die Motte gewöhnen, weil wir sie langfristig aus den Beständen nicht mehr rausbekommen.“

Keine saftig grünen Kastanienblätter stehen Berlin demnach in den nächsten Jahren bevor, sondern ein Mix, wie er schon heute in Südosteuropa zu besichtigen ist. Extrem befallene Bäume stehen neben Kastanien, denen die Motten weniger anhaben können. Entscheidend ist dabei die Vitalität jedes einzelnen Baumes, sagt Lehmann. Und die kann zumindest durch das große Reinemachen Ende Oktober wieder deutlich verbessert werden.