„Willste dein Kreuzchen machen?“

Der Weddinger wählt noch im echten Wahllokal: verraucht, mit Bier am Tresen, Dalmatiner an der Leine und grünen Schmetterlingen an der Wand. Die Tristesse der Wahllokale entfaltet erst bei Regen ihre poetische Note

Eine Prozession ist es nicht, auch keine Wallfahrt. Trotzdem: Die Werner hat sich herausgeputzt für den Gang zum Lokal. Zum Wahl-Lokal. Einem der verbliebenen 45 von 2.609 in Berlin, wo es zum Wählen ein Bier gibt. Sonst trinke die Werner ja seit Jahren kaum mehr, bestätigt ihre Freundin. Die mit dem Dalmatiner. Täglich sind die beiden zusammen, wenn sie ihre Hunde ausführen. In den Park wegen der Gesundheit.

Einmal in vier Jahren aber ist Highnoon. Ihr Wahllokal heißt „Zum Bierdeckel“. Direkt am U-Bahnhof Afrikanische Straße ist es. Die Werner kommt trotzdem zu Fuß, nickt beim Reingehen, drängt sich an der Theke vorbei, wo die Säufer sitzen. Dem mit der grauen Krawatte gibt sie die Hand. „Willste dein Kreuzchen machen?“ fragt er.

Im Hinterzimmer stehen die Urnen vor blau-goldenen Tapeten. Dazu Stuckdecke und Kristallleuchter. An der Wand ein Regal mit Pokalen, grüne Schmetterlinge und das Trikot des Eishockey-Fan-Clubs. Rot ist es. Die Stimmung im Lokal gibt die Farbe nicht wieder. Der Werner hat der Stoiber das Schwarze versaut. Jetzt wählt sie den Joschka. „Rot und jrün jibt braun, det hab ich schon inne Schule jelernt.“

Im „Bierdeckel“ ist die Stimmung bombig. Anders in der „Rehberge Klause“. Die Weddinger Seele dient im zweiten Wahllokal in der Gegend nicht als Aushängeschild. Was Besseres ist niemand hier. Das Wetter lässt die Leute mit eingezogenen Schultern eintreten. Wer konnte, hat Briefwahl gemacht.

Die Tristesse der Wahllokale entfaltet erst bei Regen ihre poetische Note. In Nummer 518, einer Kita, hängt links eine Schiefertafel, rechts der Bär. Dazu noch Schwarz-Rot-Gold. Ein paar Treppen runter geht es. Die Wände im Flur ziert ein Zug. Jeder Waggon ein Kindername und dessen Geburtstag. Fatima wird am 9. November vier. Anders als in der Kneipe, sind hier auch muslimische Frauen, die ihre Stimme abgeben.

Im Wahllokal in der Evangelischen Gemeinde an der Seestraße geht es friedlich zu. Untermalt von Kirchenmusik und Gesängen wird die Stimme, die erhobene, als etwas Wertvolles betrachtet. Die Pastorin in der Kirche nebenan bittet um Erleuchtung. Ihr liegen Mensch und Natur am Herzen. Die Klimaschutzkonferenz habe nicht die nötige Einsicht gebracht, sagt sie vor Gott und den vielleicht 25 Gläubigen, die die Sonntagsmesse besuchen.

„Nicht den Wedding niederschreiben“, bittet der Wirt aus dem „Schraders“ in der Liebenwalder Ecke Malplaquetstraße. Die Leute gingen selbstbewusst wählen. Endlich fragt sie jemand. Schulen, Kitas, Seniorenheime hätten sich herausgeputzt. Das Liebevolle stecke immer im Detail.

Seit einem Jahr arbeitet der Kneipier am besseren Image des Bezirks. Sein Motto: „Der Wedding kommt anders“. In seinem Salon will er demnächst die Werner aus ihrem Leben erzählen lassen. „I want a litte sugar in my bowl / I want a littel sweetness down in my soul“ schluchzt Nina Simone derweil über Lautsprecher. WALTRAUD SCHWAB