Die Verletztenliste verhindert die Krise

Der TBV Lemgo drückt den Reha-Patienten THW Kiel mit einem 29:27-Auswärtserfolg weiter in den Tabellenkeller

KIEL taz ■ „Die Bundesliga ist die NBA des Handballs“, sagt Uwe Schwenker gern. Seinen THW Kiel – immerhin siebenmal Deutscher Meister in den vergangenen neun Jahren – mit erfolgreichen NBA-Teams wie den Los Angeles Lakers oder den Chicago Bulls zu vergleichen, kommt dem Manager dann aber doch nicht in den Sinn. Er weiß um die zusätzlichen Fallstricke, die dem amtierenden deutschen Meister durch überhöhte Projektionen gespannt werden. Während der THW solche kommunikativen Tücken knapp, sofern unter Marketinggesichtspunkten überhaupt möglich, umschiffen kann, ist der Auftritt auf sportlicher Bühne derzeit eine einzige Fallgrube. Denn auch im vierten Saisonspiel gab es keinen Sieg für den von Konkurrenten gerne als FC Bayern des Handballs diskreditierten THW. 27:29 lautete am Ende die Heimpleite gegen den TBV Lemgo, nach der für unmöglich gehaltenen Niederlage gegen Aufsteiger TuS Nettelstedt-Lübbecke zum Auftakt und den beiden Remisen gegen Großwallstadt und den HSV stehen die Kieler nach wie vor lediglich mit zwei Punkten da. Damit hatte im Umfeld des THW nun wirklich niemand gerechnet.

Dabei wollten die „Zebras“ im Spitzenspiel vor eigenem Publikum gegen den bislang ungeschlagenen TBV Lemgo endlich voll punkten, allen Verletzungsproblemen zum Trotz. Denn neben den Langzeitabsenten Nikolaj Jacobsen und Demetrio Lozano gingen gegen Lemgo sechs weitere Spieler (Olsson, Lövgren, Schmidt, Scheffler, Preiß, Przybecki) angeschlagen ins Spiel. Eine Ausnahmesituation, die Stammtischmanager bereits dazu veranlasst hat, die Rückkehr des Lieblings aller Kieler, Magnus Wislander, zu fordern. „Da ist wirklich null dran“, ärgert sich Schwenker.

Dabei legte das Spiel selbst nur wenige der derzeitigen Missstände beim deutschen Meister offen. Die halbe deutsche Nationalmannschaft aufseiten des TBV Lemgo mit Volker Zerbe, Daniel Stephan und Christian Schwarzer sorgte zwar für eine schnelle 3:0-Führung der Ostwestfalen, doch Kiel steigerte sich trotz vieler Abspielfehler und konnte in der zweiten Hälfte gar einen 12:17-Rückstand zu einem 19:17-Vorsprung drehen. „So eine Führung darf man nicht hergeben“, ärgerte sich darüber der neue Lemgoer Trainer Volker Mudrow, am Ende konnte sein Team aber doch noch einen 29:27-Erfolg feiern. „Wir haben unseren Streifen einfach weitergespielt, so wie der THW das sonst gemacht hat“, bohrte der Lemgoer Christian Schwarzer in den Wunden der Kieler, nachdem die seinem Team im vergangenen Jahr im Endspurt die Meisterschale noch aus der Hand gerissen hatten. „Unsere Mannschaft ist durch die verpasste Meisterschaft weitergereift“, glaubt TBV-Manager Fynn Holpert mittlerweile sogar.

Beim THW spricht derweil trotz der Pleitenserie niemand von Krise. „Eine Krise kann man nur dann haben, wenn alle Spieler fit sind“, will Uwe Schwenker klargestellt wissen. Auch THW-Trainer Noka Serdarusic fragt, wie blind man eigentlich sein müsse, um zu glauben, dass man die Hälfte des Kaders ohne Substanzverlust ersetzen könne. Für ihn wie Schwenker ist klar, dass der schlechte physische Zustand zu psychischen Aussetzern auf dem Spielfeld führt „Uns fehlt einfach die Souveränität“, sagt THW-Spieler Martin Schmidt und beklagt die vielen „Flüchtigkeitsfehler“. Den Kieler Teamarzt Detlef Brandecker verwundern diese wenig. Fitte Spieler müssten mehr Wege für ihre angeschlagenen Kollegen gehen und könnten geistig bei doppelter Anstrengung nur bedingt frisch sein. Der THW-Doc fordert deshalb, die Spielplangestaltung zu überdenken, da durch die vielen „englischen Wochen“ im Handball „die Erholungspausen für alle Profis eindeutig zu kurz sind“. Für Brandecker steht fest, dass die zunehmende Vermarktung des Sports mit seiner Vielzahl an Spielen „auf den Rücken der Spieler ausgetragen wird“. Derzeit wohl am meisten auf dem der Kieler, die neben Niederlagen auch noch den Spott der Branche ernten. Lemgos Manager Holpert: „Willst du den THW oben sehen, musst du die Tabelle drehen.“ OKE GÖTTLICH