Umweltpolitik war kein Hassthema mehr

Die Grünen haben davon profitiert, dass sie ihre großen Reformprojekte zumindest auf den Weg bringen konnten. Das knappe Wahlergebnis ist das Abbild eines Wahlkampfs voller überraschender Wendungen, wie es ihn zuvor nie gab

Im Vorwahlkampf des vergangenen Jahres kam Rot-Grün überraschend in Bedrängnis

BERLIN taz ■ Zumindest in einem Punkt haben alle Demoskopen Recht behalten: Das Wahlergebnis fiel so knapp aus wie noch nie. Schwarz-gelbes und rot-grünes Lager lieferten sich in den Prognosen und Hochrechnungen des Wahlabends ein Kopf-an-Kopf-Rennen. In diesem Ergebnis spiegelt sich eine turbulente Kampagne, die zuerst für die CDU und am Ende für die SPD schon fast gewonnen schien.

Eine Überraschung aber zeichnete sich gestern schon früh ab: Entgegen allen Umfragen haben sich die Grünen nicht nur als dritte Kraft behauptet, sie haben den Abstand zur FDP sogar vergrößert. Sollte es trotz des SPD-Tiefs zu einer Neuauflage der rot-grünen Koalition kommen, dann wäre es vor allem ihr Verdienst. Die Grünen haben einen Koalitionswahlkampf geführt, der – zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – sogar gemeinsame Kundgebungen und Anzeigenkampagnen mit der SPD einschloss. De facto war das eine Zweitstimmenkampagne, die einerseits auf die Beliebtheit des Außenministers setzte, andererseits auf die Abneigung gegen rot-gelbe oder rot-schwarze Optionen. Durch die klare Festlegung auf einen realpolitischen Kurs, mit dem die Grünen seit ihrem Rostocker Parteitag den ewigen Flügelstreit beilegten, haben sie offensichtlich mehr Wähler gewonnen als verloren. Dabei haben sie auch davon profitiert, dass sie – anders als die SPD – fast alle großen Reformprojekte, die sie ihren Wählern 1998 versprochen hatten, in der abgelaufenen Wahlperiode auf den Weg bringen konnten. Geholfen hat ihnen die Hochwasserkatastrophe, die das urgrüne Thema Umwelt wieder auf die Tagesordnung brachte. Dadurch war die Umweltpolitik, anders als bei der Benzinpreisdebatte 1998, kein Hassthema mehr.

Dass die PDS ein Fünftel ihres Stimmenanteils einbüßen und am Ende als große Verliererin dastehen würde, hatte sich in den vergangenen Monaten schon abgezeichnet. Der Rücktritt ihres Zugpferdes Gregor Gysi, der allgemein als Flucht aus der Verantwortung empfunden wurde, war nur eine der Ursachen. Die Sozialisten hatten zu spät bemerkt, dass sie sich im großen Duell zwischen Schröder und Stoiber positionieren müssen. Die Flut tat ein Übriges: Während von den PDS-Politikern kaum etwas zu sehen war, konnte sich der Kanzler im Osten profilieren. Hinzu kam die Enttäuschung über die Koalitionen in Schwerin und Berlin.

Die FDP hingegen ist von ihrem großspurig verkündeten Ziel, 18 Prozent der Stimmen zu erreichen, fast so weit entfernt wie beim letzten Mal. Der Erfinder dieses Wahlslogans hat dazu am kräftigsten beigetragen: Schon im Sommer sorgte Jürgen W. Möllemann mit seiner kruden Vermischung von Antisemitismus und Kritik an der israelischen Politik für einen Einbruch in den Umfragen, wenige Tage vor der Wahl erwies er sich als notorischer Wiederholungstäter.

Für die beiden großen Parteien ist das knappe Wahlergebnis das Abbild eines Wahlkampfs voller überraschender Wendungen, wie sie die Republik noch nicht erlebt hat. Schon im Vorwahlkampf vor einem Jahr kam Rot-Grün überraschend in Bedrängnis, als Schröder in der Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz zum letzten Mittel der Vertrauensfrage greifen musste. Die Wirtschaftskrise, durch die Folgen des 11. September verstärkt, tat ein Übriges. Plötzlich gab es für die Union, die ihre „K-Frage“ im Januar beantwortete, wieder eine Chance. Im gleichen Monat stieg die Zahl der Arbeitslosen erstmals wieder auf mehr als vier Millionen. Hinzu kamen im Frühjahr der SPD-Korruptionsskandal in Nordrhein-Westfalen und die desaströse SPD-Niederlage in Sachsen-Anhalt.

Die Pisa-Studie, die Entlassung von Telekom-Chef Ron Sommer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping setzten die Pannenserie im Juli fort. Erst der August brachte mit der Flutwelle und dem drohenden Irakkrieg die Wende. Aber die Tiefschläge blieben bis zuletzt nicht aus: Dass mit Herta Däubler-Gmelin zwei Tage vor der Wahl eine Bundesministerin kurz vor dem Rücktritt stand – auch das gab es noch nie. RALPH BOLLMANN