Nach der Wahl – vor dem Kampf

Ohne Federlesens hat die Union Rot-Grün jedenfalls nicht in den Orkus befördern können. Die richtig spannenden Machtkämpfe stehen uns noch bevor

Eine große Koalition wird von weniger als zehn Prozent gewünschtWenn die FDP nicht mitregieren kann – wen interessiert das?

von BETTINA GAUS

Die SPD liegt knapp hinter der Union, die Grünen werden deutlich vor der FDP gesehen. Lange lassen die Hochrechnungen keine Rückschlüsse darauf zu, wer in den nächsten vier Jahren das Land regieren wird. Eine Botschaft aber ist von Beginn an unmissverständlich: dass sich nämlich die Hoffung der Konservativen nicht erfüllt hat, die Bevölkerung werde die erste rot-grüne Koalition ohne viel Federlesens in den Orkus befördern. Vermutlich wird die Union dennoch den Kanzler – oder die Kanzlerin – stellen. Reicht das für das eigene Selbstwertgefühl?

Die Union kann sich keineswegs als eindeutig führende politische Kraft der Republik bezeichnen. Ihr einzig möglicher Koalitionspartner, die FDP, hat nicht nur ihr – heiteres – Ziel verfehlt, 18 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen. Sondern auch ihr – ernsthafteres – Ziel, sich als dritte Kraft vor den Grünen zu etablieren. Aber es gilt auch: der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder hat seine großen Popularitätswerte nicht in ausreichendem Maße an seine Partei weiterreichen können.

Was letztlich bedeutet: ein klarer Wahlsieger ist – zunächst – nicht feststellbar. Noch bis weit nach 20 Uhr starren die Wahlforscher gebannt auf die Präferenzen der Briefwähler, die weit zahlreicher waren als jemals zuvor. Und dieses Mal vielleicht den Trend nochmals zugunsten der SPD wenden können. Oder doch nicht? Zunächst jedenfalls scheint eine Partei die Rolle des Züngleins an der Waage übernommen zu haben, die sowohl ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge als auch nach Ansicht der breiten Mehrheit am linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt ist: die PDS. Sollte sie auf dem Weg über drei Direktmandate doch noch in den Bundestag einziehen, dann gäbe es zu einer Elefantenhochzeit vermutlich keine Alternative. Umfragen zufolge wird eine große Koalition jedoch von weniger als zehn Prozent der Bevölkerung gewünscht. Kaum etwas könnte deutlicher machen, wie albern es ist, den vermeintlichen „Wählerwillen“ regelmäßig sofort nach Schließung der Wahllokale definieren zu wollen. Ungeachtet dessen wird der virtuelle Gesamtwunsch häufig auf prozentuale Abstände von weniger als zwei Prozent gestützt.

Natürlich gilt immer: Wer aus dem Rathaus kommt, ist klüger. Also ist vorhersehbar, dass alle Leitartikler der Republik jetzt auf das Schönste werden begründen können, warum es nur so und nicht anders kommen konnte. Was für ein Unsinn. Als ob nicht alle gezittert hätten. Der deutlichste Hinweis: Mit der „Nacht der langen Messer“ wurde nicht einmal bis zur Schließung der Wahllokale gewartet.

Nach jeder Wahl wird abgerechnet. Dieses Mal fand ein Teil der Abrechnung sogar während der laufenden Abstimmung statt: Zwei eindrucksvollen politischen Karrieren wurde ein abruptes Ende vorhergesagt – dem der SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin und dem des stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Jürgen Möllemann. Das Präsidium der Partei, das – durchaus ungewöhnlich – noch am Sonntagnachmittag getagt hatte, forderte den Parteivize zum Rücktritt auf. Was, wenn dieser nicht klein beigibt? Andererseits: wenn die FDP nicht mitregieren kann – wen interessiert das noch? Außer vielleicht ihren Vorsitzenden Guido Westerwelle, der auf bislang beispiellose Weise entzaubert worden ist?

Für die SPD stellt sich die Lage ein wenig komplizierter dar. Die Meldung, dass ihre Justizministerin bereits gestern Abend ihren Rücktritt erklären werde, lässt sich durchaus als Versuch der Bild-Zeitung werten, in letzter Minute noch Einfluss auf den Wahlausgang zu nehmen. Nicht dementiert wird jedoch im rot-grünen Umfeld die Absicht, die gelegentlich scharfzüngige und auch zu Verletzungen fähige Ministerin auf die Reservebank zu schicken. Was aber, wenn sie dort nicht Platz nehmen will?

Machtkämpfe stehen auch in der Union bevor. Zunächst einmal um die Frage, ob die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel auch Fraktionschefin werden soll – um nur die harmloseste aller Möglichkeiten zu nennen. Oder wird sie – in einer großen Koalition – vielleicht gar Kanzlerin werden, ohne je an einem TV-Duell teilgenommen zu haben? Angesichts des verwirrenden Wahlergebnisses dürften die richtig spannenden Machtkämpfe gerade erst begonnen haben. Wenn auch auf niedrigerer Ebene.