Nuancen ausgekostet

Kontrastreich: Pierre-Laurent Aimard brillierte in der Musikhalle mit Beethovens 5. Klavierkonzert

Das war schon seltsam: Da glänzte das Hamburger Musikfest mit einer Reihe ungewöhnlicher Konzerte, der absolute Höhepunkt jedoch war ein Standardwerk: Beethovens 5. Klavierkonzert in der Interpretation des französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard. Er spielte zusammen mit dem NDR-Sinfonie-Orchester unter Christoph Eschenbach in der Musikhalle.

Gegen diese Aufführung verblasste sogar die Uraufführung von Wolfgang Rihms neuem Orchesterstück Verwandlung, das in Eschenbachs souveränem Dirigat durchaus gefiel. Aber auch die vor suggestiven Klangwirkungen und brutalstmöglichen Kontrasten nicht zurückschreckende Aufführung der 11.Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch beim Abschlusskonzert des Festivals blieb noch hinter Aimards Beethoven-Aufführung zurück. Es scheint, als habe mit Aimard erstmals seit über zehn Jahren wieder ein Pianist einen in jedem Ton zwingenden Zugang zu Beethoven gefunden.

Bei Aimard verbindet sich intellektuelle Durchdringung mit Spontaneität. Dabei entsteht nie der Eindruck, als wolle sich der Pianist in den Vordergrund spielen. Sowohl Technik als auch Musikalität stehen im Dienst der Sache, ohne deshalb auch nur den Hauch von Sachlichkeit aufkommen zu lassen. Aimard zeigte, dass er nicht nur ein großer Meister des sowohl spontan wirkenden als auch auf die Gesamtwirkung ausgerichteten Zugriffs ist, sondern dass er die Kunst des Übergangs beherrscht. So gelangen ihm immer wieder überraschende Abschattierungen. Solche hoch differenzierten Übergänge sind Resultat einer musikalischen Gestaltungskunst, wie man sie nur selten erlebt.

Dass Aimards Kunst technische Souveränität ausstrahlt, wird da fast zur selbstverständlichen Nebensache. Dabei ist es keineswegs normal, dass ein Pianist in jedem Tempo Anschlag und Lautstärke ändert. Auch die musikalische Fähigkeit, die Tiefen dieses Werkes zwischen Kraft und Zartheit auszuloten, ist nur wenigen Musikern gegeben.

Das Spektakulärste jedoch war Aimards Anschlagsvielfalt. Ein solch breites Spektrum an Anschlagsmöglichkeiten bekommt man nur selten zu hören. Und ein so stimmiges Verhältnis von Spannung und Entspannung, verbunden mit der Kraft, jeden musikalischen Moment auszukosten, ist schlicht ein Glücksfall. Das muss man einfach hören: Am 15. November um 20 Uhr spielt Aimard wieder Beethoven – diesmal das 1. Klavierkonzert – in der Musikhalle.

Reinald Hanke