berliner szenen Die Witzebuchschreiberin

Politik mit Gefühl

Frau M. kommt jeden Tag in das Büro. Sie wohnt im selben Haus. Das Haus steht in einer Straße in Friedrichshain, einer ereignisarmen Gegend. Die jungen Menschen sitzen im Büro an Computerbildschirmen. Frau M. kommt in ihren geblümten Blusen und mit Plastiktüten in der Hand herein, fängt einfach an zu reden. Manchmal liest sie auch aus einem Notizbuch vor. Frau M. ist eine russlanddeutsche Witzebuchschreiberin aus Kasachstan. Sie ist jetzt Mitte 60, trägt die Haare blondiert. Was Scheu ist, hat sie vergessen.

Oft kommt Frau M. abends ins Büro und fragt: „Ist ein Fax für mich angekommen?“ Weil nie etwas da ist, dreht sie sich dann immer schnell wieder um, geht leise schnaufend die Stufen herunter, die vollen Plastiktüten schlagen gegen die Beine.

Vergangenen Donnerstag war das Fax tatsächlich gekommen. Frau M. erklärt, es sei von einer Moskauer Zeitung. Sie haben ihre Gedichte abgedruckt und ein Schwall von begeisterten Leserbriefen sei gekommen. Alle wollten nun mit ihr Kontakt aufnehmen, ihre Texte haben Emotionen geweckt. „Meine Landsleute haben alle einen Knall!“, sagt Frau M. Sie wirkt sehr geschäftig jetzt. Überhaupt war Frau M. zuletzt jedes Wochenende ausgebucht. Die Russlanddeutschen sind eine Wählergruppe, die nicht vernachlässigt werden durfte. Manager verschiedener Parteien haben Frau M. als kompetente bilinguale Alleinunterhalterin für das Begleitprogramm ihrer Wahlkampfveranstaltungen engagiert.

„Die Politiker reden da ihr Zeug. Und dann komm’ ich auf die Bühne“, sagt sie. „Weil ich für das Gefühl zuständig bin.“ Und es ist ja wirklich schön, dass sich in diesen Zeiten überhaupt noch jemand dafür verantwortlich fühlt. KIRSTEN KÜPPERS