ANGELA MERKEL BRAUCHT EINE GLAUBWÜRDIGE INTEGRATIONSSTRATEGIE
: Die CDU ist noch nicht normal

Wäre das Fernsehen in der Lage, Emotionswellen zu übertragen, die Zuschauer wären weggeschwemmt worden von der Erleichterungswoge, die am Wahlabend aus der Berliner CDU-Zentrale herüberbrandete. Unisono das große Aufatmen: „Wir sind wieder da!“ Ganz so, als hätte die Zerrüttung im Gefolge der Spendenaffären in einem anderen Jahrhundert gespielt. Ist also die CDU tatsächlich wieder in der Gegenwart angekommen, wird sie sich wieder erfolgreich als die legitime Sachwalterin dessen gerieren können, was den Deutschen frommt? Hat sie sich – in ihrem eigenen Verständnis – „normalisiert?“

Zweifel sind angebracht. Die CDU/CSU-Führung versichert, ihre Konzentration auf die Themen Beschäftigung und Wachstum habe sich voll ausgezahlt, denn in diesen beiden ausschlaggebenden Politikfeldern gelte sie als die einzig kompetente Kraft. Fragt sich nur, warum sie dann nicht die Mehrheit erhielt. Lag es nur an der „Überlagerung“ der Wähleraufmerksamkeit erst durch die Naturkatastrophe, dann durch den drohenden Irakkrieg? Oder waren die WählerInnen am Ende der Auffassung, die vorgeschlagenen Kuren von Regierung und Opposition sähen sich erstens verteufelt ähnlich und seien zweitens ohnehin nicht geeignet, den Lauf der Ökonomie zu beeinflussen?

Die christlich-demokratische Idee, zwischen den Imperativen einer angebotsorientierten Wachstumsstrategie und der sozialen Gerechtigkeit einen Ausgleich zu finden, ist zum Scheitern verurteilt. „Von der Staats- zur Marktwirtschaft“ zu wechseln, fordert der Bundesverband der Deutschen Industrie – das „Modell Bayern“ mit seinen staatsinterventionistischen Zügen findet in seinen Augen keine Gnade. Einst war die Kernkompetenz „soziale Marktwirtschaft“ der Garant christdemokratischer Hegemonie. Woher jetzt die große Balancierstange nehmen? Bis jetzt ist Angela Merkel nur das Wörtchen „neu“ eingefallen, um das Soziale an der Marktwirtschaft zu retten. Aber als Integrationsideologie für die CDU/CSU wird eine „neue soziale Marktwirtschaft“ nicht reichen. Erst wenn die Programmatik glaubwürdig ist, kehrt die Normalität zurück. Bis dahin wird es noch dauern.

CHRISTIAN SEMLER