„Schröder ist skrupellos“

Trotz mieser Wirtschafts- und Arbeitslosenzahlen kann man in Deutschland Wahlen gewinnen. Das ist neu, meint Parteienforscher Franz Walter

Interview STEFAN REINECKE

taz: Es heißt, in Deutschland entscheiden Wirtschaftsdaten die Wahl. Nun hat Rot-Grün doch knapp gewonnen. Gilt diese Formel nicht mehr?

Franz Walter: Dick Morris, der Ex-Wahlberater von Clinton, hat das ja vorher schon gesagt. Weil Politik in einer globalisierten, transnationalen Wirtschaft keinen zentralen Einfluss mehr auf Ökonomie nehmen kann, werden Lebensgefühl und Werte wichtiger. Offenkundig ist da etwas dran: Die Union galt ja als wirtschaftskompetenter – und hat verloren. Die Leute trauen wohl, in einer Mischung aus Enttäuschung und Realismus, keiner Regierung zu, entscheidend Wirtschaftsdaten zu verändern.

Diese Wahl war eine zwischen zwei Kandidaten, verstärkt durch das TV-Duell. Das Ergebnis, Grüne rauf, Schröder runter, widerspricht dem, oder?

Das fand ich nicht so überraschend. 1980, als Franz Josef Strauß gegen Helmut Schmidt antrat, haben auch viele erwartet, dass die dritte Partei untergehen würde. Das ist auch damals nicht geschehen. Denn so ein Kampf zwischen zwei Alpha-Tieren wird ja schnell langweilig. Das mobilisiert viele in der individualistischen, bürgerlichen Mitte, denen das ganze Getöse auf den Geist geht. Und die haben Fischer gewählt, der ja, wegen Gysis und Westerwelles Fehler, ziemlich konkurrenzlos war.

Ist der grüne Sieg nur eine Momentaufnahme oder ein Zeichen, dass die Grünen der FDP die Meinungsführerschaft im liberalen, neuen und alten, Bürgertum abnehmen?

Das ist eher situativ. Die grüne Klientel ist ja ungeheuer anspruchs- und erwartungsvoll. Wenn die Performance mal mies ist, wendet sie sich wieder ab. Meinungsführerschaft: ja. Aber nur bis zur nächsten Woche.

War das Fischers Sieg?

Ja. Alle postmaterialistischen Parteien in Europa, ob sie Grüne oder D 66 heißen, sind auf telegene Personen an der Spitze angewiesen. Das kann Fischer. In ihm spiegelt sich das neue Establishment, das eigentlich zur Mitte gehört, dies aber nicht zugeben würde, weil das ein bisschen spießig klingt. Diese Gruppe beurteilt Politik fast ästhetisch. Und da hat Fischer viele Vorteile. Seine Biografie – vom Rebellen zum Angepassten – passt zu diesem Milieu. Außerdem hat er dieses Reflexive, Eloquente, das sonst in der Politik fehlt.

Warum ist die FDP so schwach? Nur wegen Möllemanns Anti-Israel-Egotrip?

Nein. Die erfolgreichen liberalen Parteien in Europa haben fast alle einen auch intellektuell bestechenden Mann an der Parteispitze – Fischer auf rechtsliberal. Westerwelle hingegen hat jeden Gag mitgemacht und damit sein Image ruiniert. Es ist verblüffend: Als seriös und inhaltlich beschlagen gelten eher die Grünen.

Steht die FDP vor einer Richtungsentscheidung? Sie setzt Möllemann vor die Tür – und damit auch ihren Populismus?

Die FDP steckt in einer Falle. Westerwelle hat das Bild der Partei seit 1994 geprägt: als neoliberale Partei für die Bessergekleideten. Dieser Hardcore-Neoliberalismus hat bei Wahlen nicht funktioniert. Dann hat Möllemann bei den Wahlen in NRW darüber hinaus auch Verlierer angesprochen und die FDP als eigenständige Kraft und Staubsaugerpartei für alle Unzufriedenen entworfen. Meine These: Die FDP kann nicht einfach zum kalten Neoliberalismus zurückkehren. Dass Westerwelle Möllemann den schwarzen Peter zuschiebt, ist billig. Er hat den Kurs doch mitgetragen.

Für die politische Kultur ist es doch erfreulich, dass Möllemann keine Rolle mehr spielt.

Na ja, das klingt ein bisschen nach Sonntagsrede. Ist die politische Kultur wieder intakt, weil Möllemann marginalisiert wird? Man sollte sich da nicht zu sicher sein. Ich erinnere an den abrupten Aufstieg der Rechtspopulisten in den Niederlanden. Und erfolgreich war Möllemann mit seinem Autofahrer- und Machowahlkampf in NRW. Das kann sich wiederholen.

Ist eine Spaltung möglich?

Möllemann wird sich kaum mit der Rolle als Frührentner begnügen. Er hat ja eine Botschaft: Er will der Heiland aller Nörgler und Frustrierten im Bürgertum sein.

Die SPD hat im Vergleich zur Anti-Kohl-Wahl 1998 verloren. Ist ihr Ergebnis gut oder schlecht?

Gut. Kohl hat zwischen 1983 und 1987 mehr als vier Prozent verloren. Regierungen werden eben schnell wieder abgewählt. Die Wähler sind nicht sentimental oder anhänglich. Interessant ist, dass es Schröder, nach Niedersachsen, zum zweiten Mal gelungen ist, dass Rot-Grün sich behauptet. Das ist nicht selbstverständlich – Rot-Grün war 1998 nicht der Mainstream der Republik. Und: Die SPD ist zweimal stärkste Fraktion geworden. Das ist ein historisches Ereignis. Das gab es in 139 Jahren SPD-Geschichte selten.

Ist seit vorgestern die These hinfällig, dass eine Union-FDP-Regierung hierzulande der Normalfall ist?

Ja. Stoiber hat sich vorgestern schon als Sieger feiern lassen und gesagt: Wir sind die große Volkspartei. Darin schwang mit: Die SPD kann das nicht. Ihr fehlt die Härte, die Macht zu verteidigen. Aber Schröder hat diese Skrupellosigkeit und viel Fortune gehabt. Das wird das bürgerliche Lager noch ziemlich verunsichern.

Ein Ausblick: Wird die knappe rot-grüne Mehrheit Irakkrieg, Wirtschaftskrise, Gesundheitsreform überstehen?

Das wird schwierig. Die zweite Legislaturperiode ist für jede Koalition enorm schwer. Der Schwung des Anfangs ist meist weg. Und diese Koalition ist ja nicht für etwas gewählt worden – sie hat ja nicht gesagt, was sie will. Außerdem sind die spezifisch rot-grünen Themen – Atomausstieg, Homoehe etc. – erledigt. Was nun ansteht, sind unpopuläre Reformen. Und: Rot-Grün muss gegen den Bundesrat regieren. 1998 wurde noch ein Drittel der Länder rot-grün regiert. Jetzt sind es nur noch zwei Länder.

Also ein frühes Ende?

Nein. Knappe Mehrheiten disziplinieren. Aber das ist im Effekt für die Politik bedenklich. Es gibt ja in Mediengesellschaften einen neoautoritären Zug: Parteien und Fraktionen müssen geschlossen wirken, sonst fallen sie durch. Und: Alle schauen auf den Kanzler. Schröder hat jetzt also noch mehr Gelegenheit, Minderheiten zu kujonieren. Die Regierungsparlamentarier bräuchten eigentlich mehr Spielraum. In den nächsten vier Jahren haben sie noch weniger.