Ströbele genießt neue Unabhängigkeit

Der Berliner, dem seine Partei einen sicheren Listenplatz verwehrte, hat das erste grüne Direktmandat gewonnen

BERLIN taz ■ Am Ende hat sich das Warten doch gelohnt. Immer wieder hatten am Sonntagabend im Berliner Tempodrom die Grünen-Anhänger ihren Star auf die Bühne gerufen. Bis kurz nach elf mussten sie sich gedulden. Erst dann trat Christian Ströbele seinen Siegeszug durch die Menge an. Da war wahr geworden, was fast alle für unmöglich gehalten hatten: Ströbele, der linke Außenseiter und Kriegsgegner, hat in Berlin das bundesweit erste Direktmandat für die Bündnisgrünen gewonnen. Obwohl – oder gerade weil – ihm seine Partei einen sicheren Listenplatz verwehrt hatte. Und das ausgerechnet in Friedrichshain-Kreuzberg, einem der wenigen Ost-West-Wahlbezirke der Stadt.

Blass und müde sieht Ströbele aus, als er die Bühne im Tempodrom erklimmt. „Ich sehe diesen Erfolg als Wahlauftrag für die Politik, für die ich stehe, und die werde ich umsetzen“, ruft er und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Der Applaus im Saal ist rauschend. Noch ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob Rot-Grün weiter regieren kann. Doch Ströbele setzt auf diese Koalition: „Ich bin dabei und, wie bisher, ein schwieriger Partner.“ Kerstin Müller und ein Teil der anderen Abgeordneten, die neben ihm auf der Bühne stehen, lachen verkrampft. Der Saal tobt. „Integrität zahlt sich eben doch aus“, sagt eine Frau im Publikum. „Und konsequente Politik“, fügt ihre Freundin hinzu. Diese Politik will Ströbele weiter verfolgen. „Nein zum Krieg, nein zu Korruption und ja zu sozialer Gerechtigkeit – zu diesen Themen habe ich noch einiges beizusteuern“, ruft er. Nach zehn Minuten ist der Auftritt vorbei.

Was er genau vorhat im neuen Bundestag, will er auch am Morgen nach der Wahl noch nicht genau sagen. Doch leichter wird es Rot-Grün in den nächsten vier Jahren mit ihm nicht haben. „Ich habe mein Mandat jetzt direkt von der Bevölkerung“, sagt der 63-jährige Anwalt selbstbewusst. „Das verschafft mir eine Unabhängigkeit, die viel größer als vorher ist.“ Eine „gewisse Genugtuung“ gegenüber seiner Partei, die oft weit entfernt von seinen Positionen ist, verspürt er schon: „Vorher war ich sehr enttäuscht, das hat sich jetzt ins Gegenteil verkehrt.“

Die aus dieser Enttäuschung entstandene Jetzt-erst-recht-Haltung bei ihm, aber auch bei seinen WahlhelferInnen und WählerInnen, dürfte einer der Gründe für den Sieg sein. Es hat sich ausgezahlt, dass er monatelang auf Veranstaltungen diskutierte, allabendlich mit Flyern von Kneipe zu Kneipe zog. „Ich habe immer gesagt, die meisten Leute haben eine Meinung über mich. Wir müssen ihnen klar machen, dass ich in ihrem Wahlkreis antrete und auch nur so im Bundestag bleiben kann.“

Ströbele musste sich gestern erneut im Krankenhaus untersuchen lassen, weil seine Kopfschmerzen nicht nachlassen. Zwei Tage vor der Wahl hatte ihn ein Rechtsextremist mit einem Schlagstock attackiert. Die Ärzte schließen eine Gehirnerschütterung nicht aus, eigentlich sollte er im Bett bleiben. Dass ihm das die letzten nötigen Prozentpunkte verschafft hat, glaubt Ströbele nicht. „Mitleid, auch wenn es bei vielen da war, reicht nicht für eine Wahlentscheidung.“

SABINE AM ORDE