Grüne retten Koalition

Viele SPD-Anhänger haben diesmal für die Grünen gestimmt, um eine Koalition mit den Liberalen in Berlin zu verhindern

aus Berlin RALPH BOLLMANN

Claudia Roth konnte gestern den ganzen Tag machen, was sie ohnehin am liebsten tut: Sie freute sich ausgiebig. Und diesmal hatte sie sogar allen Grund dazu. Die Grünen, tönte die Parteivorsitzende, hätten „alle Wahlziele erreicht“. Sie hätten es geschafft, gestärkt in den Bundestag zurückzukehren, dritte Kraft zu bleiben und die rot-grüne Koalition zu erhalten.

Da mag nicht einmal die Wissenschaft widersprechen. „Die Grünen sind der einzige eindeutige Sieger dieser Wahl“, stellte das Berliner Meinungsforschungsinstitut Infratest-Dimap in seiner Wahlanalyse fest. Dass es für die Neuauflage der rot-grünen Koalition überhaupt reicht, hat die SPD dem grünen Koalitionspartner zu verdanken.

Für Beobachter aus dem In- und Ausland gab es kaum einen Zweifel, auf wen dieser fulminante Wahlerfolg zurückzuführen ist. „Welcher günstige Wind hat dieser kleinen Partei den Rücken gestärkt“, fragte die belgische Zeitung Le Soir, um die Antwort gleich selbst zu geben: „Diese Brise heißt ohne jeden Zweifel Joschka Fischer.“ Und die spanische Zeitung El País schreckte auch vor großem Pathos nicht zurück. „Außenminister Joschka Fischer rettete nicht nur Schröder“, hieß es dort, „sondern er wurde auch zu einer der interessantesten Figuren in der deutschen und europäischen Politik.“

Aber nicht nur auf dem internationalen Parkett kann es Fischer längst mit seinem liberalen Vor-Vorgänger Hans-Dietrich Genscher aufnehmen. Auch innenpolitisch haben die Grünen diesmal vermocht, was der FDP nicht mehr gelungen ist: Sie haben es geschafft, dem Koalitionspartner mit einer erfolgreichen Zweitstimmenkampagne Prozente abzujagen. Nach den Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen identifizieren sich 30 Prozent der Wähler, die am Sonntag für die Grünen gestimmt haben, eigentlich mit der SPD. Weil sie „Rot-Gelb verhindern wollten“, so die Meinungsforscher, hätten diese SPD-Anhänger diesmal „für die Grünen gestimmt“.

Zugute kam den Grünen aber auch ihre innerparteiliche Geschlossenheit, seit sie auf dem Rostocker Parteitag im vorigen Herbst die alten Flügelkämpfe mit überraschend deutlicher Realo-Mehrheit hinter sich ließen. „Es gab keine Meinungsverschiedenheiten“, lobte der Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit gestern im französischen Radio die deutschen Grünen. „Ich glaube, dass sie deswegen durchgestartet sind.“

Doch ist es ausgerechnet das überraschend gute Wahlergebnis, das diese Geschlossenheit bald wieder in Frage stellen könnte. Der Berliner Abgeordnete Christian Ströbele, der zur Erleichterung der Parteispitze keinen aussichtsreichen Listenplatz bekommen hatte, kehrt als erster direkt gewählter grüner Abgeordneter ins Parlament zurück. Seinen Wählern hat er vorsorglich versprochen, auch künftigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht zuzustimmen.

In Baden-Württemberg erreichten die Grünen erstaunliche 11,4 Prozent der Stimmen. Der Pazifist Winfried Hermann, dessen Listenplatz eigentlich als wackelig galt, kehrt also ganz bequem in den Bundestag zurück (siehe Spalte links). Ärgern darf sich nun der scheidende Haushaltsexperte Oswald Metzger: Er hatte nicht gegen Hermann kandidiert, weil er sich so weit hinten auf der Liste keine Chancen mehr ausrechnete.

Deutlich ausgebaut haben die Grünen auch ihr Potenzial in Ostdeutschland, wo die Partei bei den letzten Landtagswahlen im kaum noch messbaren Bereich dümpelte. Diesmal schafften die Grünen immerhin 4,8 Prozent. Offenbar hat das Hochwasser die Akzeptanz für das Thema Umwelt auch in den östlichen Ländern erhöht. Allerdings mussten die Grünen-Wähler, anders als bei Landtagwahlen, diesmal nicht fürchten, dass ihre Stimme verloren geht.

Von den 55 Abgeordneten der neuen Fraktion werden trotzdem nur sechs aus dem Osten kommen. Dafür haben die Grünen eine andere Quote übererfüllt: 32 Abgeordnete sind Frauen, das entspricht einem Anteil von 58,2 Prozent. Außerdem halten die Grünen diesmal einen Rekord, der im letzten Bundestag dem Erfurter SPD-Abgeordneten Carsten Schneider zufiel: Sie stellen mit der 19-jährigen Anna Lührmann aus Hessen die jüngste Bundestagsabgeordnete aller Zeiten.