Blair munitioniert die Zweifler

Das gestern vorgelegte britische Dossier enthält nur wenig Neues. Ganz dünn wird die Beweiskette, wenn es um die Atomwaffenfähigkeit Iraks geht

von ERIC CHAUVISTRÉ

Schon einmal, vor knapp einem Jahr, war Tony Blair von der US-Regierung die ehrenvolle Rolle zugewiesen worden, die europäischen Verbündeten von der Notwendigkeit eines US-Krieges zu überzeugen. Blair legte damals seine Beweise gegen Ussama Bin Laden vor. Drei Tage später fielen die ersten Bomben auf Afghanistan. Jetzt galt es nicht nur, skeptische Verbündete im fernen Berlin, sondern auch Kritiker in den Reihen der eigenen Labour-Partei zu überzeugen. Schon Anfang September hatte Blair deshalb „stichhaltige Beweise“ angekündigt. Sie sollten belegen, dass Bagdad weiterhin Massenvernichtungswaffen entwickelt und ein Krieg gegen Irak legitim und notwendig ist.

Nun liegt das Dokument vor. Und zumindest nach Tony Blairs eigener Interpretation lassen die Beweise „keinen Zweifel“ daran, dass die Bedrohung „ernsthaft und akut“ ist, wie der britische Premierminister in der Einleitung des Dossiers schreibt, das er gestern dem Unterhaus des Parlaments vorgelegt hat. Irak setze die Poduktion von Chemie- und Biowaffen fort. Einige dieser Waffen seien „innerhalb von 45 Minuten“ einsatzbereit. Überraschend ist hier nur, dass das Dossier genaue Detailkenntnis vorgibt. Ansonsten gibt es kaum Neues. So geht schon die jüngste, Anfang diesen Jahres erschienene Fassung des regelmäßig von der Washingtoner Carnegie-Stiftung veröffentlichten Berichts zur Verbreitung von ABC-Waffen und Raketen davon aus, dass Irak innerhalb kurzer Zeit sein Chemie- und Biowaffenprogramm aktivieren kann. Um das alte Niveau zu erreichen, so der Bericht des Instituts, würde Irak allerdings „ausländische Unterstützung in bedeutendem Ausmaß“ benötigen.

Auch in dem Abschnitt über Raketentechnologie findet sich wenig, was nicht schon in Veröffentlichungen unabhängiger Forschungsinstitute oder westlicher Geheimdienste stand. „Bis zu“ 20 Raketen vom Typ El-Hussein mit einer Reichweite von 650 Kilometern besitze Irak zum Einsatz seiner Chemie- und Biowaffen, wird in der einleitenden Zusammenfassung des Dossiers behauptet (s. Dokumentation). Allerdings – so heißt es an andere Stelle – erfordere die Weiterentwicklung der Raketen „wahrscheinlich einen sehr langsamen Prozess“. Die CIA ging schon im Januar 2001 in einem Bericht an den Kongress davon aus, dass Irak einige Scuds versteckt hält. Damit muss Bagdad nicht einmal gegen die Waffenstillstandsresolution 687 von 1991 verstoßen, denn die verbietet nur Raketen mit einer Reichweite von mehr als 150 Kilometern.

Ganz dünn wird die Beweiskette des britischen Dossiers, wenn es um die Atomwaffenfähigkeit des Iraks geht. In „ein bis zwei Jahren“ könne Irak eine Atomwaffe entwickeln – wenn es Irak gelingen sollte, im Ausland ausreichende Mengen spaltbaren Materials und andere wichtige Komponenten einzukaufen. Die höchste Hürde zum Bau einer Atombombe ist aber gerade der Zugang zu angereichertem Uran oder Plutonium. Klammert eine Prognose diese Komponenten aus, ist sie belanglos. Was bleibt, ist der Verweis auf nicht näher beschriebene Beschaffungsversuche durch Irak – wie erfolgreich sie waren, bleibt offen. Unklar bleibt deshalb auch, warum Blairs Prognose für eine irakische Bombe von der des Pentagons aus dem letzten Jahr abweicht. Anfang 2001 legte sich das US-Verteidigungsministerium in einem Bericht darauf fest, dass Irak „fünf oder mehr Jahre“ brauche – und auch das gilt nur bei „entscheidender ausländischer Unterstützung“.

Gerade einmal 16 Seiten des 55 Seiten umfassenden Dokuments beschäftigen sich überhaupt mit dem aktuellen Stand der irakischen Waffenprogramme. Ein großer Teil des mit „Iraks Massenvernichtungswaffen“ überschriebenen Papiers beschäftigt sich mit der Geschichte des irakischen Programms vor 1998, dem Herrschaftssystem Saddam Husseins und den unbestrittenen Menschenrechtsverletzungen durch das Bagdader Regime. Um das Dossier weiter zu füllen, wurde auch ein historischer Abriss der irakischen ABC-Waffenproduktion zwischen 1971 und 1998 und eine Chronologie der UN-Inspektionen seit 1991 aufgenommen – alles bekannte Informationen über Programme, die von Irak nicht bestritten und deren Bestände großteils unter UN-Aufsicht zerstört wurden.

Natürlich, so Blair im Vorwort des Dossiers, könne man nicht die „rohen Erkenntnisse“ der Geheimdienste vorlegen. Er und andere Minister seien aber über die Details informiert worden und seien damit „zufrieden“. Ob dies skeptischen Verbündeten und Kritikern in den eigenen Reihen auch so geht, bleibt abzuwarten. Weder in Blairs Labour-Partei, noch in der deutschen Bundesregierung muss wohl jemand davon überzeugt werden, dass Irak Reste seiner ABC-Waffen und Raketenprogramme besitzt und nicht immer ein freundlicher Gastgeber der UN-Kontrolleure war. Für eine Zustimmung zu einem Präventivkrieg wird es kaum reichen.