Beim Gucken zugucken

Filme über verstörte Jugendliche gibt es viele, aber wenige sind so nah dran wie Henner Wincklers „Klassenfahrt“

Es macht keinen Spaß. Obwohl Schulausflüge eigentlich Spaß machen sollten und wahrscheinlich dazu gedacht sind, etwas Abwechslung in den tristen Schulalltag zu bringen, stiften sie meist nur Ärger und Verdruss. Das bekommt eine Gruppe von Berliner Schülern zu spüren, die es in Henner Wincklers erstem Langfilm „Klassenfahrt“ an die polnische Ostsee verschlägt. Das offizielle Unterhaltungsprogramm umfasst Tagesausflüge in Städte und Museen sowie Tischtennis- und Strandvolleyballspiele. Inoffiziell verstehen die Schüler es zwar, das Ganze mit Alkohol, Sex und gegenseitigem Sich-auf-die-Nerven-Gehen aufzulockern. Dass der allabendliche Besuch des örtlichen „Paradise Nightclubs“ allerdings den Höhepunkt darstellt, spricht in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache. Bald setzt jedenfalls eine niederschmetternde Langeweile ein, die sich so hartnäckig hält wie das Tief über dem Strand des herbstlichen Bades.

Vor allem der 16 Jahre alte Einzelgänger Ronny (Steven Sperling), der irgendwo zwischen den Phasen der Heranwachsens und des Erwachsenseins Schiffbruch erlitten hat, kann seinen Unmut nur knapp verbergen. Als seine heimliche Liebe, Isa (Sophie Kempe), mit dem bereits volljährigen polnischen Bademeister Marek Freundlichkeiten auszutauschen beginnt, bricht die Bitterkeit Stück für Stück aus ihm heraus.

Zwar ist das Kino mit Filmen über verstörte und entfremdete Jugendliche reich gesegnet, doch andererseits gibt es nur wenige, die so nah an ihrem Thema sind wie dieser. Der Regisseur beweist ein feines Gespür für die Details und Umstände, die das Dasein der Schülergruppe bestimmen, zeigt die abrupten Wechsel zwischen Freundschaft und Eifersucht, zeigt die selbstbezügliche Welt, in der Erwachsene wie der Lehrer (Fritz Roth) nur wie ein Fremdkörper vorkommen.

Dabei vertraut auch Winckler auf das beliebte Mittel der Handkamera, die Ronny hauptsächlich beim Gucken zuguckt oder das filmt, was Ronny beim Gucken sieht. Da nie etwas passiert, ist das in der Regel nicht viel. Wie das Wenige von Wincklers Laienspielriege ausgefüllt wird, ist weitaus mehr, als man erwarten durfte.

Vor allem Steven Sperling als Ronny ist den Eintritt wert. Meist schwankt er zwischen Klassenclown, Vollidiot, Möchtegern-Soziopath und Zyniker – und zwar stets zur gleichen Zeit. Er denkt sehr viel, sagt aber nur wenig, und seine Jacke mit der schönen Aufschrift „Free Spirits Party Place“ wirkt in dieser Beziehung wie ein guter Witz.

Doch witzig ist „Klassenfahrt“ nicht. Denn tatsächlich steuert die Geschichte von Ronny und seinen Mitschülern unbeirrt auf eine Katatastrophe zu, die Winckler so kühl und gekonnt in Szene setzt, dass man ihm zu seinem Erstling nur gratulieren kann. HARALD PETERS

„Klassenfahrt“. Regie: Henner Winckler. Mit Steven Sperling, Sophie Kempe, Bartek Blaszczyk u. a. Deutschland 2002, 86 Minuten