Zwang und Zooblick

Das Gefangenenensemble aufBruch betreibt in der Justizvollzugsanstalt Tegel mit der „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke die Umkehrung von innen und außen

Die Eckkneipe heißt „Zur goldenen Freiheit“, es gibt Buletten und Schnitzel billig im Angebot. Weil das Einfache reicht für Gold und Freiheit, wenn man eine Gaststätte ist und gegenüber dem größten Gefängnis Europas steht, draußen vor der Betonmauer in Berlin-Tegel, wo man das Verhältnis zwischen Ungezwungenheit und Eingesperrtsein schlecht vergessen kann.

Die paar Menschen, die sich an diesem Abend in diese Gegend verlaufen haben, lassen sich indes nicht ein auf den schönen Namen einer gastronomischen Einrichtung, sie gehen rüber auf die andere Straßenseite, hinter die schweren Metalltore. In der Justizvollzugsanstalt wird an diesem Abend Theater gespielt: die „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke. Und natürlich wird es auch hier um die Dialektik von innen und außen gehen.

Die Schauspieler sind allesamt Häftlinge der Justizvollzugsanstalt. Als Mitglieder des Gefangenenensembles aufBruch betreiben sie nicht nur die von Handke intendierte Umkehr von Bühne und Zuschauerraum. Ihre Publikumsbeschimpfung, die vielen „Ihr“- und „Wir“-Sätze des Textes und nicht zuletzt die vorangegangenen langwierigen Sicherheitskontrollen am Eingang zur Haftanstalt lassen den Gegensatz zwischen dem Leben draußen und dem Vollzug explizit zum Thema werden. Das seit 1997 existierende Theaterprojekt aufBruch versteht sich auch in dieser Produktion des Regisseurs Peter Atanassow als politisches Theater. „Kunst soll aus dem ästhetischen Ghetto der Theaterinstitutionen herausgeholt werden“, sagt das Pressematerial.

So tritt den Zuschauern im Kultursaal des Gefängnisses ein Rudel schwarzweiß gekleideter Männer entgegen, ein uniformierter Sprechchor, der Anklage erhebt gegen die Verhältnisse, die Bewegungen laufen synchron. Es geht um Zwang, vereinheitlichte Unterschiedlichkeit und den Zooblick der Außenstehenden darauf. Die Männer wischen den Boden, essen aus Blechnäpfen, prügeln sich als rivalisierende Banden. Immer wieder tritt ein Einzelner aus der Gruppe heraus, liefert die individuelle Perspektive der Demütigung. „Wenn man klein ist, hält man den Mund“, erzählt etwa einer, die anderen bilden eine feindliche Wand.

Bisweilen kommt diese Rede etwas pathetisch daher, mit sehr erhobenem Zeigefinger. Das Stück ist von 1966. „Wir sind alle in einem eigenen Gefängnis“, heißt es da, oder „Hier gibt es nur das Jetzt und das Jetzt und das Jetzt“. Und es ist nur der Körperlichkeit der Akteure zu verdanken, der gewichtig im Raum stehenden Realität eingeschränkter Bewegungsfreiheit, dass dennoch ein authentisches Gefühl überspringt. Einmal tanzen die Männer Walzer, als ungleiche Zweierpaare zu einer falschen Harmonie zusammengesteckt, im Gesicht bleibt jeder für sich. Diese unbestimmt melancholischen Momente sind es wohl, die großes Theater bedeuten, es ist keine laienhafte Betroffenenspielgruppe, die hier auftritt.

Das Publikum tut in dieser Situation das Angemessene. Als die Schauspieler es anbrüllen: „Euch muss man gesehen haben, ihr Rotzlecker!“, ein wildes Geschrei erheben, versucht es, möglichst zustimmend zu nicken, betreten zu gucken, zu überbrücken, nicht beleidigt zu schauen. Und ganz schnell geht die Beschimpfung dann auch vorbei, die Vorstellung zu Ende, das Licht an. Kurz bleibt der Abend im kahlen Gefängnissaal noch in einer zappeligen Zwischenzeit hängen, bevor die Gefangenen wieder in ihre Zellen müssen. Die Männer umarmen ihren Besuch, die Freundinnen, die Verwandtschaft, die Sozialarbeiter, die sagen, wie gut alles war. Man selbst blättert die Pressemappe durch, der ein „Kleines Knast-Wörterbuch“ angeheftet ist. Kartoffelbrei heißt demnach in der Gefängnissprache „Nato-Kitt“, „Kambotscha-Kartoffeln“ steht für Reis, und uniformierte Vollzugsbeamte werden von Häftlingen als „Trachtengruppe“ bezeichnet. KIRSTEN KÜPPERS

„Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke. Mit dem Gefangenentheaterensemble aufBruch, Justizvollzugsanstalt Tegel am 27. 9./ 2. 10./ 4. 10. / 11. 10. 2002, Karten nur im Vorverkauf mit persönlicher Anmeldung, spätestens sieben Tage vor der Vorstellung beim Hebbel Theater, Stresemannstr. 29, Telefon 25 90 04 27