Religiöse Werte gegen Armut

Heute sollen in Marokko die ersten wirklich freien Wahlen stattfinden. Die Islamisten werden immer stärker, fürchten aber bei einem Sieg ein „algerisches Szenario“

Stimmenkauf und Wahlfälschung gehörten in Marokko bislang immer dazu

MADRID taz ■ Das marokkanische Staatsfernsehen wird nicht müde, die 14 Millionen Wahlberechtigten an die Urnen zu rufen. Keiner dürfe bei dem „Rendezvous mit der Demokratie“ am heutigen Freitag fehlen. „Erstmals wird es wirklich freie und transparente Wahlen geben“, erklärt der amtierende sozialistische Premierminister Abdarrahmane Youssoufi selbstbewusst. Zwar tritt der 78-Jährige selbst nicht mehr zu den Wahlen an. Aber er will die Wähler davon überzeugen, seiner Union der sozialistischen Volkskräfte USFP einmal mehr das Vertrauen zu schenken.

Dies ist kein leichtes Unterfangen. Denn in den fünf Jahren seiner „Regierung des Wechsels“ hat sich für viele nur wenig geändert. Zwar verweist Youssoufi zu Recht auf mehr politische Freiheit und auf die Entschädigungszahlungen an die Opfer der bleiernen Jahre unter dem vor drei Jahren verstorbenen König Hassan II., doch die soziale Lage hat sich kaum verbessert. Über 60 Prozent der Wahlberechtigten sind Analphabeten. 30 Prozent sind ohne Arbeit. Die Trockenheit der letzten Jahre lässt das Wirtschaftswachstum sinken und die Slumgürtel um die Großstädte anwachsen. So leben heute in der Sechs-Millionen-Stadt Casablanca 60 bis 70 Prozent der aktiven Bevölkerung in Baracken, meist ohne Anschluss an das Strom- und Wassernetz. 75 Prozent der Marokkaner wollen das Land verlassen. Für eine aktivere Sozialpolitik, wie sie Youssoufi einst versprach, gibt es kein Geld. Schuldendienst und Verwaltung schlucken 80 Prozent des Haushaltes.

Angesichts dieser Misserfolge will Youssoufi sich jetzt zumindest als derjenige zur Ruhe setzten können, der die ersten sauberen Wahlen organisiert hat. Der König scheint ihn in diesem Ansinnen zu unterstützen. Auch er braucht etwas zum Vorzeigen. Denn die demokratischen Reformen, die sich viele von ihm versprochen haben, blieben weitgehend aus. Vor zwei Wochen entließ der direkt dem König unterstellte Innenminister Driss Jettou einen Zivilgouverneur und drei weitere Beamte, „um einen sauberen Wahlablauf zu garantieren“. So etwas war bisher undenkbar. Stimmenkauf und Wahlfälschung gehörten in Marokko immer dazu.

Umfragen sagen den Sozialisten 22 Prozent der Stimmen voraus. Zusammen mit den restlichen linken Parteien könnten es 36 Prozent sein. Das reicht nicht. Zumal die zweite große Kraft in der bisherigen Koalition aus sieben Parteien, die konservativ-nationalistische Istiqlal, seit Monaten auf Distanz geht.

Istiqlal-Chef und Spitzenkandidat Abbas al-Fassi will am liebsten selbst regieren. Dafür Koalitionspartner zu finden, ist nicht schwer. Auf der Rechten tummeln sich allerlei Parteien, die einst direkt vom Palast gegründet wurden. Und vor allem kann sich al-Fassi mit den Islamisten zusammentun. Der Partei für Gerechtigkeit und Justiz (PJD), der einzigen religiösen Formation unter den 26 kandidierenden Parteien, wird ein starker Zugewinn an Stimmen vorhergesagt.

Angesichts der angespannten sozialen und wirtschaftlichen Lage Marokkos predigen die Islamisten die Rückbesinnung auf die traditionellen Werte und unterstreichen dies mit karitativer Arbeit in den Elendsvierteln. Auch unter dem akademischen Nachwuchs erfreuen sie sich regen Zulaufs.

Trotz ihrer Beliebtheit treten sie nur in 60 Prozent der Wahlkreise an. „Wir sind eine junge Partei, deshalb müssen wir langsam machen, um nicht zu stolpern. Die Islamische Heilsfront in Algerien fuhr einen Erdrutschsieg ein und zahlte sehr teuer dafür“, erklärt Benkiram die seltsame Bescheidenheit seiner Formation. Die größte islamistische Gruppe, Al Adl Wal Ihssane (Gerechtigkeit und Geistlichkeit) von Scheich Abdessalam Yassine, nimmt erst gar nicht an den Wahlen teil, „um ein algerisches Szenario zu verhindern“. REINER WANDLER