Ein Hindernis, eigentlich

Warum lächeln die Freunde in Deutschland so seltsam? Wieso nur lassen die Grenzer den Schlagbaum zur Schweiz herunter? Und was mag der Grund dafür sein, dass Rolli und Cornelia plötzlich Angst vor verliebten Italienern haben? Schuld an allem ist nur die Isetta!

von CORNELIA KURTH

Rolli war siebzehn und eigentlich ein Philosoph. Stunden über Stunden redeten wir damals über Kritische Theorie und tranken dabei Whiskey aus winzigen Gläsern. In der Garage seiner Eltern aber wartete ein seltsames kleines Auto auf ihn. Es hatte die Farbe und fast auch die Form eines Eis, und wenn man ein- oder aussteigen wollte, musste man die Vorderfront samt Lenkrad zur Seite klappen. Eine Isetta, sicher die einzige verbliebene Isetta in der Kleinstadt L.

Ein alter Nachbar hatte sie Rolli vermacht, und der entdeckte fasziniert, dass er nicht nur philosophieren, sondern auch autoschraubern konnte. Geduldig reparierte er das von seinen Freunden nicht ohne versteckten Neid belächelte Gefährt, brachte es auf Hochglanz, riskierte einige nächtliche Fahrten noch vor dem achtzehnten Geburtstag und schließlich, im Sommer, als er volljährig wurde, war ich es, die er einlud, mit ihm und der Isetta eine Reise nach Italien zu machen.

„Könnt ihr nicht der Ordnung halber noch jemanden mitnehmen?“, murrten meine Eltern, besorgt um meinen Ruf. Geht nicht, leider, leider! Die Sitzbank einer Isetta bietet nun einmal nur Platz für Fahrer und Beifahrer. „Italien!“, sagte Rolli. „Heimat der wunderbarsten Künstler und Geburtsstätte meines wunderbaren Autos!“

Es dauerte allerdings so seine Zeit, bis wir aus dem Norden Deutschlands auch nur bis zur ersten Grenze kamen. 85 km/h Spitze auf der Autobahn. Laster überholten uns, deren Fahrer von weit, weit oben auf uns herabblickten, wie wir gemütlich dahinjuckelten, ein Hindernis eigentlich, und doch winkte uns so mancher Trucker zu, lachte uns an, bremste gar spaßeshalber ab und tat so, als sei das Überholen ein großes Problem. Die Isetta brummte freundlich und zuverlässig vor sich hin. Niemals vorher oder nachher war es so kurzweilig, die langweilig-lange Strecke Richtung Süden zu überwinden.

Bei Steigungen schaffte das Auto gerade mal 45 Stundenkilometer, aber abwärts kamen wir auf stolze 87. Und Adorno und Horkheimer waren immer in aller Ruhe dabei, denn eine Isetta läuft auch bei Höchstgeschwindigkeit so unangestrengt, dass man entspannt reden kann wie in einem Mittelklassewagen.

Hat Rolli, der Autofahrer, überhaupt mal geschlafen oder ist er Isetta-heldenhaft tage- und nächtelang durchgefahren bis zum Sankt Gotthard? Diese Reise liegt mehr als zwanzig Jahre zurück, aber eins weiß ich gewiss: Niemals hätte er mich oder irgendjemand anderen hinter das Steuer seiner Isetta gelassen. Nie! Bei Nacht fuhren wir über den Pass, bergauf kaum schneller als dreißig Stundenkilometer, lebensgefährlich knapp überholt von schlaftrunkenen Autofahrern. Und bergab genauso langsam, denn ein auch noch so autobegeisterter Achtzehnjähriger hat doch ein wenig Sorge, dass sich sein Autoei in eine Kanonenkugel verwandeln könnte, die über den Rand sich schlängelnder Straßen in den Abgrund saust.

Wir wollten eine Übernachtungsstation in Mailand aufsuchen, wobei es ein Zufall war, dass ganz in der Nähe die Stadt Bresso liegt, wo die Isetta von der Firma ISO entwickelt und produziert wurde, bis BMW 1954 die Lizenz unter anderem für Deutschland erwarb. Der Grenzübergang verlief mitten durch ein kleines Städtchen, halb schweizerisch, halb italienisch. Die Schweizer kümmerten sich nicht groß um uns, aber als wir auf die italienische Seite zurollten, nahmen wir eine gewisse Unruhe am Grenzposten wahr. „O Mist, die nehmen uns auseinander!“, murmelte Rolli, und tatsächlich winkte uns ein Grenzer zur Seite und bedeutete uns, auf einem Parkplatz zu halten und auszusteigen. Und nicht nur dieser eine Grenzer schien ziemlich aufgeregt, redete italienisch auf uns ein und klopfte auf die kleine Isetta. Nein, als wir durch die hochgeklappte Fronttür austiegen, waren wir und das Auto plötzlich von lebhaft diskutierenden Männern in Uniform umringt, die irgendetwas von uns wollten.

„Mein Gott, sie haben den Grenzübergang geschlossen!“, flüsterte ich Rolli zu und und zeigte auf den gestreiften Grenzpfahl, der heruntergelassen worden war, sodass sich dahinter bereits eine kleine Autoschlange bildete. Wollten sie alle zusammen unser Gepäck durchsuchen und die Tabakvorräte konfiszieren? Oder hielten sie uns vielleicht für Terroristen?

„Isetta! Isetta!“, diese Worte konnten wir schließlich als einzige in dem wilden Gerede identifizieren, bis ein sehr gebrochen deutsch sprechender Uniformierter auf Rolli zutrat, ihm auf die Schulter klopfte und fragte: „Deine Isetta? Aus Deutschland? Weißt du, das ist unser Auto! Schönes, gutes Auto! Italia.“ Diese Grenzer, die das Auto von allen Seiten begutachteten und liebevoll streichelten, sie waren offensichtlich alle fanatische Isetta-Fans!

Hier und da hupte einer der Wagen an der geschlossenen Grenze auf, aber das hinderte unsere Grenzer nicht daran, Rolli so gut es ging nach Baujahr, Motor und Geschichte der Isetta zu befragen. Rolli wurde immer größer und stolzer, lehnte sich lässig an sein Autolein und hätte in diesem Moment niemals mit einem Porsche getauscht. Als wir weiterfahren durften, hatten wir nicht mal unsere Ausweise vorgezeigt.

Es wurde eine wunderbare, eigenartige Reise. Besaßen die Italiener keine einzige eigene Isetta mehr? Freuten sie sich über das deutsche Nummernschild und das BMW-Emblem an dem in Italien geborenen Wagen, dessen Produktion auch in Deutschland 1962 eingestellt worden war? Wir haben es nie herausbekommen, weil Italiener offenbar nur italienisch sprechen und wir kaum mehr sagen konnten als „Isetta, si, bueno!“

In der ersten Kleinstadt, mittags, war alles totenstill, als wir die Isetta am Marktplatz parkten – und eine Stunde später, als wir zurückkamen, sahen wir, dass eine Veranstaltung auf dem vor kurzem noch verwaisten Platz stattfand. Eine Veranstaltung rund um die Isetta! Männer, Frauen und Kinder bildeten einen so dichten Pulk vor dem Wagen, dass wir kaum durchkommen konnten. Sie jubelten auf, als Rolli den Schlüssel umdrehte und die Tür nach vorne aufsprang, sie klatschten, als wir starteten, und die Kinder liefen uns hinterher, als wir losrollten. Wir kamen uns vor wie Rockstars.

Mailand mit seinem einmaligen Dom, Siena, ja selbst die Uffizien in Florenz und der schiefe Turm von Pisa, das alles löste bei uns nicht mehr Begeisterung aus, als wir mit der kleinen Isetta vor allem in den ländlichen Gegenden auslösten. Rolli war stolz wie ein Italiener und hatte gleichzeitig nicht schlecht Angst, die hier so großartige Isetta könnte ihm über Nacht einfach weggetragen werden von einer verliebten Italienergang. Manchmal zelteten wir wild hoch oben an irgendeiner Bergstraße und schliefen unruhig, weil wir hörten, wie ab und zu vorbeifahrende Autos abremsten, zurücksetzten, anhielten und erst nach einer Weile langsam wieder losfuhren.

An den Rückweg nach Deutschland kann ich mich nicht mehr erinnern. Und wenn Rolli seine Isetta nach gar nicht mal langer Zeit an ein Isetta-Klubmitglied verkaufte, dann lag das sicherlich auch an diesem Italienrausch, gegen den das leicht neidisch eingefärbte Lächeln der Freunde in Deutschland eine Beleidigung war. Philosoph ist er allerdings geblieben, immer noch, soviel ich weiß, in Sachen Kritische Theorie. Die kann der treue Verfechter in der Tat mehr gebrauchen als die überlebenden Isettas (in Deutschland sind es etwa tausend), die Fanklubs nicht nur in Europa, sondern auch in Argentinien, Uruguay oder Japan besitzen.

CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln. Ihr Auto: ein alter, billiger Japaner. Marke: öhh …