Ein „Altar des Vaterlandes“

Im traditionell unabhängigen, hansestädtischen Bremen zeugt eine kleine ‚Kapelle‘ im Rathaus von Kaiserverehrung. Darin, nicht blind aber nackt: Justitia blickt auf Wilhelm zwo herunter

„Das ist den Bremern so peinlich, dass keine offizielle Rathausführung diese Kapelle erwähnt.“ Mit einem Augenzwinkern spricht der Hausherr des Rathauses, Henning Scherf, über ein kleines Turmzimmer im ersten Stock, das TouristInnen ohne speziellen Hinweis leicht entgehen kann. Es scheint – ungewöhnlich in einer Stadt die stolz auf ihre Tradition der Unabhängigkeit ist– ein Indiz für wilhelminische Kaisertreue und -verehrung an der Weser.

Besagtes Zimmerchen geht vom Festsaal im Anbau ab, gebaut zwischen 1910 und 1913, im neugotischen Stil, wie Gabriele Brünings von der Pressestelle im Rathaus sagt. Der runde Raum hat einen Durchmesser von etwa vier Metern. Gegenüber dem flachen Rundbogeneingang mit goldenen Ornamenten befindet sich ein kleiner Marmortisch mit stilisierten Löwenfüßen. Darüber ist in die Wand eine Bronze von Kaiser Wilhelm II. im Profil eingelassen. Rechts und links flankiert von zwei Leder bezogenen Stühlen kann man sich gut vorstellen, wie sich hier in trauter Runde zu Beginn des 20. Jahrhunderts einflussreiche Persönlichkeiten über den Space Park von damals oder Investitionen im Technologiepark-Vorläufer bei einer Zigarre einig wurden.

Vermutlich damit die hohen Herren beim Regieren oder Geschäftemachen nicht den Anstand aus den Augen verloren, thronen über ihren Köpfen sieben Tugenden in Frauengestalt: Die Weisheit Prudentia mit unbedeckten Brüsten, Schlange und dem Apfel vom Baum der Erkenntnis aus dem Garten Eden. Neben ihr, erstaunlich fürs evangelische Bremen, Pietas, die Frömmigkeit, als Nonne dargestellt. Auch Justitia ist unbekleidet. Mit offenen Augen hat sie ihren Platz direkt über dem Kaiser. Der einzige männliche Vertreter im Tugend-Reigen ist die Tapferkeit, in Ritterrüstung und mit Prinz-Eisenherz-Haarschnitt.

Gabriele Brünings weiß über den Raum, dass er in der Literatur über das Rathaus als „Altar des Vaterlandes“ bekannt ist, soweit er überhaupt erwähnt würde. Heutzutage würde es auch „Kaiser Wilhelm-Zimmer“ genannt. Sie hat festgestellt, dass diese verzierten Quadratmeter in vielen Büchern, die sich mit dem Bremer Rathaus beschäftigen, unerwähnt bleiben. Erklären kann sich Brünings dieses Phänomen nicht. Die Aussage Scherfs, diese „Kapelle“ hätten die Bremer für Kaiser Wilhelm II. gebaut, in der Hoffnung im Gegenzug Aufträge zum Schiffbau für die Kriegsmarine nach Bremen zu holen, will sie weder bestätigen noch dementieren.

Die Gästeführerinnen der Bremer Touristik Zentrale (BTZ) gehen tatsächlich nicht explizit auf das Anhängsel des Festsaals ein, sagt Jutta Gräbner von der BTZ. Sie konzipiert die Führungen. Der Grund sei allerdings keineswegs, dass er für Bremen peinlich sei, sondern dass die Zeit für Rathausführungen dann zu knapp würde. Festzustehen scheint, dass Kaiser Wilhelm II. häufiger in Bremen war. Der Rest scheint Spekulation. ube