Langes Leben, lange Stelzen

Heute ist der Welttag der Vegetarier. Fleischlosigkeit ist längst eine Lebenseinstellung – auch in Berlin, allerdings eher für Gutbetuchte. Die billige Alternative heißt polnischer Brotaufstrich

von JAN ROSENRANZ

„So in der Packung sieht das Zeug ein bisschen wie Hundekuchen aus“, findet Ines Sachunsky. „Richtig zubereitet, schmeckt Sojafleisch aber erheblich besser.“ Die Chefin des Ökoladens „food company“ am Teutoburger Platz im Prenzlauer Berg schüttelt eine quietschbunte Packung und betrachtet die grauen Klümpchen, die darin rasseln. Man kann vegetarische Bouletten daraus herstellen oder Bolognese-Sauce.

„Sojovy granulat“ steht auf dem Karton. Auf anderen ist „kotlety sojowy“, „gulasz sojowy“ oder „sojové nudlicky“ zu lesen. Sie füllen ein ganzes Regal. Eines haben alle Packungen gemein: Ines Sachunsky hat sie eigenhändig aus Polen und Tschechien nach Berlin importiert. Und sie kosten nicht viel.

Weil selbst diejenigen, die gerade noch verstehen, dass „gulasz sojowy“ Sojagulasch meint, spätestens beim Lesen der Zubereitungshinweise scheitern, hat die Chefin die Übersetzung am Computer selbst getippt, ausgedruckt und an das Regal geheftet. Warum allerdings polnisches Sojafleisch nur fünf Minuten einweichen muss, bevor es verarbeitet werden kann, tschechisches dagegen eine Viertelstunde, kann auch die 34-Jährige nicht erklären.

Aber auf die preiswerten veganen Brotaufstriche aus Polen, die im selben Regal, gleich neben dem Tresen liegen, ist Ines Sachunsky besonders stolz – auch wenn die kein Ökosiegel tragen. „Das ist die billige Alternative für alle, die sich teure Öko-Sachen nicht leisten können, sich aber trotzdem vegetarisch ernähren wollen“, sagt sie. Und hofft, durch ihr Angebot vor allem Studenten, junge Familien und Arbeitslose in den Souterrainladen zu locken.

Ob teuer oder preiswert – immer mehr Bundesbürger verzichten auf Fleisch. 1983 betrug der Anteil der Vegetarier laut einer Studie der Gesellschaft für Kosumforschung (GfK) gerade 0,6 Prozent. Eine Forsa-Umfrage aus dem vergangenen Jahr hat ermittelt, das dieser Anteil inzwischen auf über 8 Prozent gestiegen ist – das sind etwa 6 Millionen Vegetarier. Thomas Schönberger, Vorsitzender des Vegetarier-Bundes Deutschland e. V. behauptet sogar, dass sich pro Woche durchschnittlich 4.000 Deutsche auf fleischlose Ernährung umstellen. Zum heutigen Weltvegetariertag will er zusammen mit den Mitstreitern vom Berliner Regionalverband „Vegetarische Alternative“ einen „vegetarischen Umzug“ veranstalten. Gegen 12 Uhr wollen sie am Breitscheidplatz starten. Sie werden bunte Kostüme tragen, an denen Obst und Gemüse baumelt – aus Plastik, damit nichts verrutscht. Und sie werden Schnittchen unters Volk bringen mit vegetarischem Brotaufstrich und Faltblättchen mit dem Motto: „Vegetarier leben länger.“ Um das Motto zu bebildern, werden zwei Umzügler auf Stelzen gehen. Langes Leben, lange Stelzen?

Ines Sachunsky wird am morgigen Weltvegetariertag vor ihrem Laden vegane Brotaufstriche zur Verköstigung bringen – polnische und selbst gemachte. Sie will sich der Kundschaft vorstellen, schließlich hat sie den kleinen Ökoladen erst Anfang September übernommen – und das auch eher zufällig. Denn eigentlich wollte sie einen vegetarischen Imbiss eröffnen und dort selbst importierte Sojawaren zubereiten und verkaufen. Kochen hat sie in den zweieinhalb Jahren gelernt, in denen sie die Volksküche eines besetzten Hauses schmiss. Dann suchte sie verzweifelt nach einem Platz für ihren Imbiss. Aber statt bezahlbarem Gewerberaum hat sie im Sommer diese Anzeige gefunden: Ökoladen zu verkaufen. Da hat sich kurzerhand umentschieden. Ein bisschen muss sie sich aber noch daran gewöhnen – auch an das Publikum. Wenn sie morgens zu Fuß aus der Prenzlauer Allee kommt, über den Kollwitzplatz und hinüber zum Teutoburger Platz, dann ist sie nämlich manchmal „ganz schön abgegessen“, sagt sie. Weil es hier ja fast nur noch „Yuppies“ gebe, die in Eigentumswohnungen wohnen. Dann muss sie sich schnell beruhigen: „Das sind nun mal auch meine Kunden.“