Der Schaum der Stunden

Peter Weber begibt sich mit seiner „Bahnhofsprosa“ an die Ränder der Gegenwart

Höllisch ist der Lärm der Züge, höllisch auch das Sprachgemisch, dessen Ohrenzeuge der namenlose Erzähler in Peter Webers mit Bedacht bloß als „Bahnhofsprosa“ bezeichnetem neuen Buch ist. Keine Erzählung, kein Roman, schon gar keine Novelle liegt hier vor. Vielmehr versucht da in vier Teilen mit je sechs kleinen Kapiteln zu vier bis fünf Seiten ein Erzähler dem Alltagsirrsinn auf einem Bahnhof – auf verschiedenen Bahnhöfen – auf die Spur zu kommen, versucht einer, die Flüchtigkeit und das Passagere des expliziten „Nicht-Orts“ (Marc Augé), Metapher und Symbol für unsere gesamte westliche, von einer Metropolen-Unkultur dominierte, kurzum postmoderne Zivilisation zur Sprache zu bringen: „Man müsse kleines Leben“ suchen, so referiert der Erzähler an einer Stelle die „bedeutsamen“ Worte einer Missionarin, „vor den Kulissen, am Rand der großen Ereignisse, im äußeren Quirl des eigenartigen Strudels, den wir Gegenwart nennen, in den Nischen und Winkeln, wo der Alltag niste“.

Dabei handelt es sich, obwohl dies zunächst noch den Anschein hat, um keine Flanerie, um keine Weiterschrift des Robert Walser’schen Projekts, nämlich auf Trouvaillen im Unscheinbaren und Unspektakulären aufmerksam zu machen, sondern vielmehr darum, über ein dichtes Textgewebe eine verrückte, ja irre Welt zu vermitteln. Mal ist Webers Text in Duktus und Ton der expressionistischen Sprachgeste verwandt – und leider auch nicht ganz frei von diesbezüglichem Wort- und Metapherngeklingel: „Der Dachterrassenboden, auf dem ich stehe, ist innerlich erhitzt, die Bodenplatten bewegen, Stundenschaum kocht auf, ergießt sich übers Geländer, fließt die Fassade hinunter. Ich stehe auf der Turmuhr über dem Ballungsraum, blicke ins Geblubber, habe nun die aufstrebende Unterhitze zu ergründen.“ Dann wieder erinnert der Text an die unterirdischen, apokalyptische Szenarien beschreibenden Höhlengänge Wolfgang Hilbigs, auf die eine frei vagierende Fantasie stößt.

Aber es fehlt dem Erzähler letztlich eine Art, wie könnte man sagen: existenzieller Wärmestrom, der die Bilder der Kälte und Erstarrung wieder aufheizen könnte und somit belebte. Am Ende vermag der Leser nicht zu entscheiden, woran es gelegen hat: ob dem Erzähler nun die Sprachzügel entglitten sind oder ob ihm nur die Striktheit der Benn’schen Ästhetik – „Material muss kühl gehalten werden“ – einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. In beiden Fällen jedoch kommt sich der Erzähler (samt seinen Problemen) abhanden. Schade drum. WERNER JUNG

Peter Weber: „Bahnhofsprosa“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002. 130 S., 18,90 €