Ganz ohne Enthüllungen

Distanz trotz Dogma-typischer DV-Kamera-Intimität: „Kira“ rückt Szenen einer Ehe auf die Pelle und lässt dennoch den Figuren eine Menge Geheimnisse. Regisseur Ole Christian Madsen präsentiert den Film bei einer Preview in Hamburg

Unsere schrecklich nette Dogma-Familie: Mit schöner Regelmäßigkeit kehrt das Kinopublikum in ihren dunklen Schoß zurück, um das Fürchten zu lernen. Nunmehr zum siebten Mal folgt ein Film dem weiterhin werbewirksamen Keuscheitsgebot aus Dänemark, und schon in der ersten Einstellung von Kira rückt die obligate DV-Kamera der Titelheldin (Stine Stengade) wie ein allzu vertraulicher Bekannter auf die Pelle.

Da wartet Kira gerade in der Eingangshalle einer psychiatrischen Klinik auf ihren Ehemann Mads, der sie zurück ins großbürgerliche Heim, inklusive Swimmingpool und zweier wohlgeratener Kleinkinder bringen will. Mads verspätet sich, denn er musste noch schnell seine Interims-Geliebte verlassen. Dass selbige gleichzeitig Kiras Schwester ist, ficht den hochgewachsenen Pragmatiker scheinbar nicht an, den alerten Zuschauer aber sehr wohl. Schließlich wissen wir seit Idioten und Das Fest, was für Abgründe hinter der schmucken Fassade einer dänischen Wohlfahrts-Bourgeoisie lauern. Und dass die Dogmatiker als rücksichtlose Ethnographen stets dorthin gehen, wo es ganz besonders wehtut: Home is where the horror is.

Tatsächlich bestätigen sich zunächst die schlimmsten Befürchtungen, wenn die labile Kira beim quälenden Wiedereinstieg in den Alltag immer wieder aus- und auffällig wird. Ob sie nun im städtischen Schwimmbad das Kinderbecken aufmischt, oder nach einem planlosen Seitensprung im schwedischen Malmö aufwacht, im Bauch des Betrachters krampft sich in Erwartung der nächsten Katastrophe bereits alles zusammen.

Doch den ganz großen Knall lassen Regisseur Ole Christian Madsen und sein exellentes Ensemble überraschenderweise aus, weshalb es bald so scheint, als spielte Kira nicht ohne heimliche Freude mit den pessimistischen Vorahnungen seines Publikums. Etwa wenn das krisengeschüttelte Ehepaar seine Seelenängste durch das gemeinsame Hüpfen auf dem Hotelbett abbaut, oder sich der vermeintliche Abschiedsbrief eines potentiellen Selbstmordkandidaten als anrührendes Plädoyer für ein wahres Leben im Falschen entpuppt.

Wo die ersten Dogma-Filme mit schonungslos ausgestellten Pathologien die repressive Politk des Privaten anprangerten, geht diese „Liebesgeschichte“ – so übersetzt sich der viel aufschlussreichere dänische Originaltitel – weitaus nachsichtiger mit ihren Figuren um. Schnell wird klar, dass neben Kira auch die anderen Beteiligten nicht alle Bodum-Tassen im Schrank haben. Und wenn jeder ein bisschen verrückt ist, dann gibt es schließlich Hoffnung auf zarte Verständigung zwischen den normalen Irren.

Damit es dazu kommt, muss der Film jedoch zu einer neuen Intimität im Dogma finden. Entscheidend ist hierbei nicht, welche private parts die Video-Kamera diesmal ablichtet, sondern welche Rückzugsräume die Geschichte den unglücklichen Liebenden lässt. Kira und Mads überleben die Szenen ihrer Ehe, weil sie letztlich keine Rechtfertigung für die gegenseitige Zuneigung brauchen. Darum ist es nicht wirklich von Belang, wenn wir gegen Ende erfahren, warum Kira ursprünglich in der Geschlossenen gelandet ist: Enthüllungen sind diesem Dogma-Film herzlich egal, und genauso wie das zutiefst liebenswerte Paar behält Kira sein kostbarstes Geheimnis für sich. David Kleingers

Preview: Di, 20 Uhr, Abaton